Anmeldender Gläubiger oder Insolvenzgericht? Insolvenzverwalter kann Adressat für die Rücknahme des Widerspruchs frei wählen
BGH v. 27.4.2023 - IX ZR 99/22
Der Sachverhalt:
Der Beklagte war Verwalter in dem am 16.4.2009 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der U. GmbH. Am 28.5.2009 meldete das Finanzamt für den Kläger Steuerforderungen i.H.v. rd. 60.000 € zur Tabelle an, die am 15.7.2009 i.H.v. rd. 9.000 € festgestellt und i.H.v. rd. 50.000 € durch den Beklagten bestritten wurden, weil die Steuerforderungen nicht bestandskräftig bzw. nicht tituliert seien; die Höhe wäre noch zu klären. Mit Schreiben vom 4.8.2009 teilte der Beklagte dem Finanzamt mit, nach nochmaliger Durchsicht der vorliegenden Unterlagen könnten die angemeldeten Forderungen bis auf diejenigen aus Körperschaftssteuer und Solidaritätszuschlag für 2007 nunmehr anerkannt werden.
Am 20.10.2009 reduzierte das Finanzamt gegenüber dem Insolvenzgericht die angemeldeten Forderungen auf rd. 50.000 €. Von dem Erlass von Feststellungsbescheiden sah es ab. Das Insolvenzgericht berichtigte die Insolvenztabelle am 6.4.2016, dass nunmehr die festgestellte Forderung rd. 7.500 € betrage und angemeldete Forderungen i.H.v. rd. 43.000 € bestritten seien. Nach Bekanntmachung des Schlusstermins am 1.6.2017 forderte das Finanzamt bei dem Insolvenzgericht eine Abschrift des Schlussberichts und der Schlussrechnung an, die nachfolgend ohne die Tabelle übersandt wurden. Am 15.2.2018 erhielt das Finanzamt die Tabelle mit Stand 31.1.2018. Mit Schreiben vom 16.2.2018 bat das Finanzamt den Beklagten um eine Korrektur der Tabelle, was er als nicht mehr möglich ablehnte. Der Kläger erhielt auf die bestrittenen Forderungen keine Zuteilung. Am 8.8.2018 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.
Der Kläger nimmt den Beklagten persönlich wegen dessen Tätigkeit als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz nach § 60 InsO in Anspruch. Er macht geltend, das Finanzamt habe keine Feststellungsbescheide erlassen, weil der Beklagte die zuletzt angemeldeten Forderungen mit dem Schreiben vom 4.8.2009 anerkannt habe. Wären die Forderungen bei der Verteilung berücksichtigt worden, hätte der Kläger rd. 4.000 € erhalten.
AG und LG wiesen die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten, da dieser nach Rücknahme des erhobenen Widerspruchs gegen die angemeldeten Forderungen des Klägers pflichtwidrig nicht auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hingewirkt hat.
Grundlage des Begehrens ist § 60 InsO. Nach dieser Bestimmung ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach der Insolvenzordnung obliegen. Die Forderungsprüfung gehört zu den originären Aufgaben des Insolvenzverwalters. Dieser ist als Amtswalter der Interessen aller Beteiligten zur Prüfung und ggf. zum Widerspruch nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Sofern sich aufgrund der eingereichten Unterlagen Zweifel an der Berechtigung der Forderung aufdrängen oder aufdrängen müssen, kann der Insolvenzverwalter gehalten sein, die Forderung vorläufig zu bestreiten, um so Zeit für eine weitergehende Prüfung zu erhalten. Durch ein schuldhaftes Unterlassen des Widerspruchs macht sich der Insolvenzverwalter nach § 60 InsO persönlich haftbar; es handelt sich um eine insolvenztypische Amtspflicht des Verwalters. Umgekehrt kann aber auch das grundlose Bestreiten einer Forderung eine Schadensersatzpflicht gem. § 60 InsO auslösen.
Der Beklagte hat dem Kläger gegenüber im Rahmen der Forderungsprüfung und -feststellung obliegende Pflichten verletzt. Das vorläufige Bestreiten einer Forderung durch den Insolvenzverwalter stellt keine Pflichtverletzung i.S.v. § 60 InsO dar. Der Beklagte hat eine ihm obliegende insolvenzspezifische Pflicht i.S.v. § 60 InsO verletzt, indem er weder das Insolvenzgericht über die Rücknahme des Widerspruchs in Kenntnis gesetzt noch das Finanzamt darauf hingewiesen hat, eine Berichtigung der Tabelle zu veranlassen. Denn der Insolvenzverwalter muss nach der Rücknahme eines zuvor durch ihn erhobenen Widerspruchs, jedenfalls bei einem vorläufigen Bestreiten, auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hinwirken.
Die Frage, wer der richtige Adressat für die Rücknahme des Widerspruchs ist, also ob die Erklärung entweder dem Gläubiger gegenüber oder dem Insolvenzgericht gegenüber oder aber ausschließlich nur dem Insolvenzgericht gegenüber abzugeben ist, wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet. Nach einem Teil des Schrifttums kann die Rücknahme des Widerspruchs nur gegenüber dem Insolvenzgericht erklärt werden. Nach einer anderen Meinung kann die Rücknahme des Widerspruchs entweder dem Gläubiger gegenüber oder dem Insolvenzgericht gegenüber erklärt werden. Die Frage ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden worden. Einschlägige obergerichtliche Entscheidungen liegen ebenfalls nicht vor. Die Frage ist dahin zu entscheiden, dass der Insolvenzverwalter nach seiner Wahl die Rücknahme des Widerspruchs gegenüber dem anmeldenden Gläubiger oder aber gegenüber dem Insolvenzgericht erklären kann.
Mehr zum Thema:
Rechtsprechung:
Anwaltsvertrag mit Gesellschaft als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten der Gesellschafter im Rahmen einer Sanierungsberatung
OLG Saarbrücken vom 07.12.2022 - 5 U 67/21
ZIP 2023, 598
Die ZIP ist Bestandteil des Beratermoduls Zeitschriften Wirtschaftsrecht:
Jetzt neu: Führende Zeitschriften zum Wirtschaftsrecht, Aktienrecht, Gesellschaftsrecht und Versicherungsrecht stehen hier zur Online-Recherche bereit. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO bei ausgewählten Zeitschriften (GmbHR, ZIP). Wann immer es zeitlich passt: Für Fachanwälte bietet das Beratermodul Beiträge zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!
BGH online
Der Beklagte war Verwalter in dem am 16.4.2009 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der U. GmbH. Am 28.5.2009 meldete das Finanzamt für den Kläger Steuerforderungen i.H.v. rd. 60.000 € zur Tabelle an, die am 15.7.2009 i.H.v. rd. 9.000 € festgestellt und i.H.v. rd. 50.000 € durch den Beklagten bestritten wurden, weil die Steuerforderungen nicht bestandskräftig bzw. nicht tituliert seien; die Höhe wäre noch zu klären. Mit Schreiben vom 4.8.2009 teilte der Beklagte dem Finanzamt mit, nach nochmaliger Durchsicht der vorliegenden Unterlagen könnten die angemeldeten Forderungen bis auf diejenigen aus Körperschaftssteuer und Solidaritätszuschlag für 2007 nunmehr anerkannt werden.
Am 20.10.2009 reduzierte das Finanzamt gegenüber dem Insolvenzgericht die angemeldeten Forderungen auf rd. 50.000 €. Von dem Erlass von Feststellungsbescheiden sah es ab. Das Insolvenzgericht berichtigte die Insolvenztabelle am 6.4.2016, dass nunmehr die festgestellte Forderung rd. 7.500 € betrage und angemeldete Forderungen i.H.v. rd. 43.000 € bestritten seien. Nach Bekanntmachung des Schlusstermins am 1.6.2017 forderte das Finanzamt bei dem Insolvenzgericht eine Abschrift des Schlussberichts und der Schlussrechnung an, die nachfolgend ohne die Tabelle übersandt wurden. Am 15.2.2018 erhielt das Finanzamt die Tabelle mit Stand 31.1.2018. Mit Schreiben vom 16.2.2018 bat das Finanzamt den Beklagten um eine Korrektur der Tabelle, was er als nicht mehr möglich ablehnte. Der Kläger erhielt auf die bestrittenen Forderungen keine Zuteilung. Am 8.8.2018 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.
Der Kläger nimmt den Beklagten persönlich wegen dessen Tätigkeit als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz nach § 60 InsO in Anspruch. Er macht geltend, das Finanzamt habe keine Feststellungsbescheide erlassen, weil der Beklagte die zuletzt angemeldeten Forderungen mit dem Schreiben vom 4.8.2009 anerkannt habe. Wären die Forderungen bei der Verteilung berücksichtigt worden, hätte der Kläger rd. 4.000 € erhalten.
AG und LG wiesen die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten, da dieser nach Rücknahme des erhobenen Widerspruchs gegen die angemeldeten Forderungen des Klägers pflichtwidrig nicht auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hingewirkt hat.
Grundlage des Begehrens ist § 60 InsO. Nach dieser Bestimmung ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach der Insolvenzordnung obliegen. Die Forderungsprüfung gehört zu den originären Aufgaben des Insolvenzverwalters. Dieser ist als Amtswalter der Interessen aller Beteiligten zur Prüfung und ggf. zum Widerspruch nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Sofern sich aufgrund der eingereichten Unterlagen Zweifel an der Berechtigung der Forderung aufdrängen oder aufdrängen müssen, kann der Insolvenzverwalter gehalten sein, die Forderung vorläufig zu bestreiten, um so Zeit für eine weitergehende Prüfung zu erhalten. Durch ein schuldhaftes Unterlassen des Widerspruchs macht sich der Insolvenzverwalter nach § 60 InsO persönlich haftbar; es handelt sich um eine insolvenztypische Amtspflicht des Verwalters. Umgekehrt kann aber auch das grundlose Bestreiten einer Forderung eine Schadensersatzpflicht gem. § 60 InsO auslösen.
Der Beklagte hat dem Kläger gegenüber im Rahmen der Forderungsprüfung und -feststellung obliegende Pflichten verletzt. Das vorläufige Bestreiten einer Forderung durch den Insolvenzverwalter stellt keine Pflichtverletzung i.S.v. § 60 InsO dar. Der Beklagte hat eine ihm obliegende insolvenzspezifische Pflicht i.S.v. § 60 InsO verletzt, indem er weder das Insolvenzgericht über die Rücknahme des Widerspruchs in Kenntnis gesetzt noch das Finanzamt darauf hingewiesen hat, eine Berichtigung der Tabelle zu veranlassen. Denn der Insolvenzverwalter muss nach der Rücknahme eines zuvor durch ihn erhobenen Widerspruchs, jedenfalls bei einem vorläufigen Bestreiten, auf eine Berichtigung der Insolvenztabelle hinwirken.
Die Frage, wer der richtige Adressat für die Rücknahme des Widerspruchs ist, also ob die Erklärung entweder dem Gläubiger gegenüber oder dem Insolvenzgericht gegenüber oder aber ausschließlich nur dem Insolvenzgericht gegenüber abzugeben ist, wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet. Nach einem Teil des Schrifttums kann die Rücknahme des Widerspruchs nur gegenüber dem Insolvenzgericht erklärt werden. Nach einer anderen Meinung kann die Rücknahme des Widerspruchs entweder dem Gläubiger gegenüber oder dem Insolvenzgericht gegenüber erklärt werden. Die Frage ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden worden. Einschlägige obergerichtliche Entscheidungen liegen ebenfalls nicht vor. Die Frage ist dahin zu entscheiden, dass der Insolvenzverwalter nach seiner Wahl die Rücknahme des Widerspruchs gegenüber dem anmeldenden Gläubiger oder aber gegenüber dem Insolvenzgericht erklären kann.
Rechtsprechung:
Anwaltsvertrag mit Gesellschaft als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten der Gesellschafter im Rahmen einer Sanierungsberatung
OLG Saarbrücken vom 07.12.2022 - 5 U 67/21
ZIP 2023, 598
Die ZIP ist Bestandteil des Beratermoduls Zeitschriften Wirtschaftsrecht:
Jetzt neu: Führende Zeitschriften zum Wirtschaftsrecht, Aktienrecht, Gesellschaftsrecht und Versicherungsrecht stehen hier zur Online-Recherche bereit. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO bei ausgewählten Zeitschriften (GmbHR, ZIP). Wann immer es zeitlich passt: Für Fachanwälte bietet das Beratermodul Beiträge zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!