05.05.2023

Berechnung der Verschuldensquote der Crédit lyonnais

Der EuGH hat den Beschluss der EZB bestätigt, mit dem Crédit lyonnais verweigert wurde, 34 % seiner Risikopositionen gegenüber der Caisse des dépôts et consignations bei der Berechnung seiner Verschuldungsquote unberücksichtigt zu lassen. Der EuGH hob das Urteil des EuG auf, das dadurch die Grenzen seiner gerichtlichen Kontrolle überschritten hat, dass es seine eigene Beurteilung des Risikos von Notverkäufen, das für Crédit lyonnais bestand, an die Stelle der von der EZB getroffenen Beurteilung gesetzt hat.

EuGH v. 4.5.2023 - C-389/21 P
Der Sachverhalt:
Crédit lyonnais ist eine als Kreditinstitut zugelassene Aktiengesellschaft französischen Rechts. Das Institut ist eine Tochtergesellschaft der Crédit agricole SA und unterliegt als solche der unmittelbaren Aufsicht der EZB. Im Mai 2015 beantragte Crédit agricole bei der EZB im eigenen Namen und im Namen der Unternehmen der Crédit-agricole-Gruppe, zu denen Crédit lyonnais gehört, die Erlaubnis, bei der Berechnung der Verschuldungsquote Risikopositionen gegenüber der Caisse des dépôts et consignations (Hinterlegungs- und Konsignationszentralkasse, im Folgenden: CDC), einer französischen öffentlichen Einrichtung, unberücksichtigt zu lassen. Diese Risikopositionen resultierten aus den Einlagen auf verschiedenen Sparbüchern, die nach der geltenden französischen Regelung zwingend an die CDC übertragen werden müssen (reglementierte Sparformen).

Der Beschluss vom 24.8.2016, mit dem die EZB Crédit agricole die beantragte Erlaubnis verweigerte, wurde durch ein Urteil des EuG für nichtig erklärt. Im Nachgang zu diesem Urteil beantragte Crédit agricole bei der EZB erneut, die Risikopositionen gegenüber der CDC unberücksichtigt zu lassen. Mit Beschluss vom 3.5.2019 erlaubte die EZB Crédit agricole und den Unternehmen der Crédit-agricole-Gruppe - mit Ausnahme von Crédit lyonnais -, bei der Berechnung der Verschuldungsquote alle ihre Risikopositionen gegenüber der CDC unberücksichtigt zu lassen. Crédit lyonnais hingegen wurde lediglich erlaubt, 66 % hiervon unberücksichtigt zu lassen. Im streitigen Beschluss vertrat die EZB die Auffassung, dass sie im vorliegenden Fall über ein Ermessen verfüge, und wandte eine Methodik an, die drei Gesichtspunkte berücksichtigte: die Kreditwürdigkeit der französischen Zentralverwaltung, das Risiko von Notverkäufen und den Grad der Konzentration der Risikopositionen gegenüber der CDC.

Das EuG gab der Klage von Crédit lyonnais auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses, insoweit dieser ihr die Erlaubnis versagte, bei der Berechnung ihrer Verschuldensquote ihre Risikopositionen gegenüber der CDC zur Gänze unberücksichtigt zu lassen, statt. Konkret stellte es fest, dass der aus der Höhe des Risikos von Notverkäufen hergeleitete Grund des streitigen Beschlusses "rechtswidrig" sei. In der Folge vertrat das EuG die Auffassung, dass die beiden anderen Gesichtspunkte der von der EZB angewandten Methodik nicht dazu hätten führen dürfen, dass die EZB es Crédit lyonnais im streitigen Beschluss verweigert habe, ihre Risikopositionen gegenüber der CDC insgesamt unberücksichtigt zu lassen.

Auf ein Rechtsmittel der EZB hin hob der EuGH das angefochtene Urteil auf und wies die Klage ab. Das Urteil des Gerichtshofs enthält Klarstellungen zu der Frage, welche Kontrollmaßstäbe die Unionsgerichte bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsbeschlüssen der EZB anzulegen haben, wenn der EZB ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt.

Die Gründe:
Die EZB verfügt bei der Entscheidung darüber, ob bei der Berechnung der Verschuldensquote bestimmte Voraussetzungen erfüllende Risikopositionen unberücksichtigt bleiben dürfen oder nicht, über einen weiten Spielraum. Daher darf die richterliche Kontrolle, die das Unionsgericht über die Stichhaltigkeit der Gründe des Beschlusses der EZB ausüben muss, nicht dazu führen darf, dass es seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung der EZB setzt. Vielmehr soll mit der gerichtlichen Kontrolle überprüft werden, ob der Beschluss nicht auf unzutreffenden Tatsachenfeststellungen beruht und ob er nicht mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler oder einem Ermessensmissbrauch behaftet ist. Dabei muss der Unionsrichter insbesondere nicht nur die sachliche Richtigkeit, die Zuverlässigkeit und die Kohärenz der angeführten Beweise prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen. Denn wenn ein Organ über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügt, kommt der Beachtung der verfahrensrechtlichen Garantien eine fundamentale Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalles zu untersuchen.

Das EuG hat, als es die Merkmale reglementierter Sparformen und den kumulierten Effekt dieser Merkmale seiner eigenen Beurteilung unterzogen hat, die Auffassung vertreten, das Risiko von Notverkäufen sei nicht hinreichend hoch, um zu rechtfertigen, dass die EZB es ablehnt, dass bei der Berechnung der Verschuldungsquote alle Risikopositionen von Crédit lyonnais gegenüber der CDC berücksichtigt werden. Damit hat das EuG jedoch zum einen die Feststellungen der EZB nicht in Frage gestellt, die die Merkmale der reglementierten Sparformen betreffen und derentwegen die EZB zu dem Schluss gelangt ist, dass es diese Merkmale nicht erlaubten, gänzlich auszuschließen, dass Crédit lyonnais Gefahr laufen könne, Notverkäufe tätigen zu müssen. Folglich stellt die Argumentation des EuG nicht die sachliche Richtigkeit, die Zuverlässigkeit oder die Kohärenz der im streitigen Beschluss berücksichtigten Beweise in Frage, und sie weist auch nicht nach, dass diese Beweise nicht alle relevanten Daten darstellten, die von der EZB heranzuziehen wären.

Die Folgerung des EuG, wonach die von der EZB berücksichtigten Daten nicht geeignet gewesen seien, die Schlussfolgerungen zu untermauern, die im streitigen Beschluss gezogen worden seien, ergibt sich zum anderen aus der eigenen Beurteilung des EuG zum Grad des Risikos von Notverkäufen. Diese Beurteilung, die auf denselben Gesichtspunkten wie denjenigen beruht, die von der EZB berücksichtigt wurden, weicht von der Beurteilung der EZB ab, ohne indessen nachzuweisen, dass letztere offensichtlich fehlerhaft wäre. Mit dieser Argumentation hat das EuG, anstatt die ihm obliegende Kontrolle vorzunehmen, ob ein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorlag, in einem Fall, in dem der EZB ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht, seine eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen dieses Organs gesetzt.

Was die vom EuG vorgenommene Beurteilung der auf der Erfahrung der jüngsten Bankenkrisen beruhenden Rechtfertigung der EZB anbelangt, hat das EuG zudem nicht dargetan, inwieweit die Erwägungen, wonach die Einlagen reglementierter Sparformen im Unterschied zu Sichteinlagen nicht in risikobehaftete oder nicht liquide Vermögenswerte investiert werden könnten, geeignet sind, zu belegen, dass die von der EZB vorgenommene Beurteilung des Szenarios massiver Abhebungen, von dem auszugehen sei, um das für Crédit lyonnais bestehende Risiko von Notverkäufen zu analysieren, offensichtlich fehlerhaft ist. Gleiches gilt für die Erwägungen, die auf dem Unterschied zwischen der zweifachen Garantie der Französischen Republik für die reglementierten Sparbücher und dem aus der Richtlinie 2014/495 hervorgegangenen Sicherungsmechanismus beruhen.

Das EuG hat den streitigen Beschluss für nichtig erklärt, indem es seine eigene Beurteilung des für Crédit lyonnais bestehenden Risikos von Notverkäufen an die Stelle derjenigen der EZB gesetzt hat, ohne darzutun, inwieweit die in diesem Beschluss enthaltene Beurteilung der EZB insofern mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet sei. Dadurch hat es die Grenzen seiner gerichtlichen Kontrolle überschritten. Das EuG ist ferner zu Unrecht davon ausgegangen, dass die EZB gegen ihre Verpflichtung, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, verstoßen habe. Crédit lyonnais ist es im Hinblick auf die begrenzte gerichtliche Kontrolle, die der EuGH in Anbetracht des weiten Beurteilugsspielraums anzustellen hat, der der EZB im vorliegenden Fall zukommt, nicht gelungen, darzutun, dass die im streitigen Beschluss enthaltenen Beurteilungen der EZB in Bezug auf das Risiko von Notverkäufen und die Kreditwürdigkeit der französischen Verwaltung offensichtlich fehlerhaft wären. Der EuGH bestätigt mithin den Beschluss, mit dem Crédit lyonnais verweigert wurde, 34 % seiner Risikopositionen gegenüber der CDC bei der Berechnung seiner Verschuldungsquote unberücksichtigt zu lassen.

Mehr zum Thema:

Beratermodul Kapitalmarktrecht:

Diese umfangreiche Online-Bibliothek liefert Premium-Fachwissen zum Kapitalmarktrecht. 4 Wochen gratis nutzen!
EuGH PM Nr. 70 vom 4.5.2023
Zurück