07.07.2016

Berufsunfähigkeitsversicherung: Abweichender Inhalt von Versicherungsantrag und -schein zugunsten des Versicherungsnehmers

Weicht der Inhalt des Versicherungsscheins zugunsten des Versicherungsnehmers vom Inhalt des zugrunde liegenden Antrags ab, so kommt der Versicherungsvertrag auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 VVG mit dem Inhalt des Versicherungsscheins zustande, wenn der Versicherungsnehmer nicht binnen eines Monats widerspricht. An dieser Auslegung des § 5 VVG hält der Senat auch in Anbetracht der im Schrifttum nach der VVG-Reform geführten Diskussion fest.

BGH 22.6.2016, IV ZR 431/14
Der Sachverhalt:
Die Klägerin macht Leistungsansprüche aus einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung geltend, die sie im Jahre 2009 bei der Beklagten abgeschlossen hat. Die Parteien streiten im Revisionsverfahren ausschließlich darum, ob die Beklagte die Klägerin abstrakt auf einen anderen Ausbildungsberuf verweisen kann. Den Versicherungsantrag stellte die Klägerin am 5.8.2009. In dem Vorschlag W2K20Y8EF der Beklagten für einen Antrag war neben einem Verweis auf die Versicherungsbedingungen die folgende Klausel enthalten:

"Maßgebende Versicherungsbedingungen/Zusätzliche Vereinbarungen
- Es gilt folgende Regelung: Ist die versicherte Person bei Eintritt des in § 1, Abs. 1, 2 oder 3 der Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung beschriebenen Zustands Auszubildender, so kommt es bei der Anwendung von § 1, Abs. 1 bis 3 darauf an, dass die versicherte Person außer Stande ist, einer Tätigkeit als Auszubildender nachzugehen oder eine Tätigkeit auszuüben, zu der sie auf Grund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lage ist und die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht."

Der Versicherungsantrag der Klägerin nahm auf diesen Vorschlag in der Weise Bezug, dass es dort heißt: "Dieser Antrag gilt nur in Verbindung mit dem zum Antrags-inhalt gehörenden Vorschlag Nr. W2K20Y8EF". In dem am 14.9.2009 ausgestellten Versicherungsschein ist die Klausel zu Ausbildungsverhältnissen dagegen nicht wiederholt. Auf Seite 7 ist lediglich auf die Versicherungsbedingungen verwiesen und zu den "Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZVB 03.09)" heißt es dort: "Diese Bedingungen haben Sie bereits mit der Antragsdurchschrift erhalten." In diesen Bedingungen lautet es in § 1 Abs. 1 u.a.: "Eine Verweisung auf eine andere Tätigkeit kommt nur dann in Betracht, wenn diese i.S.v. Abs. 4 a) konkret ausgeübt wird (Verzicht auf abstrakte Verweisung)."

Die Klägerin absolvierte eine im August 2010 begonnene Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, als sie Ende Januar 2011 einen Band-scheibenvorfall erlitt. Danach suchte sie ihre Ausbildungsstelle nicht mehr auf. Seit dem 1.9.2013 befindet sie sich in einer Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistungen. Die Klägerin behauptet, aufgrund des erlittenen Bandscheibenvorfalls und dessen Folgen seither bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Sie meint, eine Verweisung auf die ausgeübte Tätigkeit als Fachangestellte für Arbeitsmarktdienstleistungen sei nicht zulässig. Die in dem Antrag enthaltene Zusatzklausel zur Berufsunfähigkeit bei Auszubildenden sei nicht Vertragsinhalt geworden und die jetzt ausgeübte Tätigkeit sei auch nicht mit derjenigen einer Einzelhandelskauffrau vergleichbar.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Nach § 5 Abs. 1 VVG kommt der Versicherungsvertrag mit dem Inhalt des Versicherungsscheins zustande, sofern dieser vom Inhalt des zugrunde liegenden Antrags abweicht und der Versicherungsnehmer dem nicht binnen eines Monats widerspricht; dies gilt nach der Rechtsprechung des Senats im Falle einer dem Versicherungsnehmer günstigen Abweichung auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 2 der Vorschrift, weil dieser - anders als Abs. 1 - nur im Falle den Versicherungsnehmer benachteiligender Abweichungen anzuwenden ist. An dieser Auslegung des § 5 VVG hält der Senat auch in Anbetracht der im Schrifttum nach der VVG-Reform geführten Diskussion fest.

Soweit die Auffassung vertreten wird, dass sich der Inhalt des Vertrages in diesen Fällen nicht nach § 5 Abs. 1 VVG, sondern nach den allgemeinen Regeln des BGB richte, ist dem entgegenzuhalten, dass der klare Wortlaut des § 5 Abs. 1 VVG gegen eine Einschränkung auf dem Versicherungsnehmer ungünstige Abweichungen spricht und eine solche Einschränkung auch durch den Zweck der Norm nicht geboten wird. Aber auch der Ansicht, dass im Falle für den Versicherungsnehmer günstiger Abweichungen § 5 VVG insgesamt, also einschließlich der Abs. 2 und 3, anzuwenden sei und deshalb auch in diesem Fall eine dem § 5 Abs. 2 VVG entsprechende Belehrung erforderlich sei, damit die Abweichung zum Vertragsinhalt wird, ist nicht zu folgen. Sie berücksichtigt nicht hinreichend, dass es sich bei Abs. 2 des § 5 VVG um eine Schutzvorschrift für den Versicherungsnehmer handelt und deshalb kein Grund ersichtlich ist, weshalb ein Versicherer aus der Verletzung dieser Schutzvorschrift sollte Rechte herleiten können; daran hat sich durch die Neufassung von § 5 Abs. 3 VVG im Zuge der VVG-Reform nichts geändert.

Eine Ausnahme von der Genehmigungsfiktion nach § 5 Abs. 1 VVG ist nur dann zu machen, wenn der Erklärende also der Versicherer in Wahrheit etwas anderes wollte und der Erklärungsempfänger also der Versicherungsnehmer - dies erkannt hat, mithin der übereinstimmende Wille beider Parteien auf einen anderen Regelungsinhalt gerichtet war. In diesen Fällen ist unabhängig von der Regelung des § 5 VVG der wahre Wille des Erklärenden maßgebend. Nach alldem hat das OLG zu Unrecht angenommen, dass die im Vorschlag der Beklagten enthaltene und im Antrag der Klägerin in Bezug genommene Zusatzvereinbarung Bestandteil des Versicherungsvertrages geworden ist. Der Versicherungsschein erwähnt diese Zusatzvereinbarung nicht, sondern nennt als für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung geltende Versicherungsbedingungen ausschließlich die BUZVB 03.09, die die Klägerin mit der Antragsdurchschrift bereits erhalten habe. Damit liegt eine Abweichung des Versicherungsscheins vom An-trag vor, so dass der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 VVG eröffnet ist.

Es liegt nach den bisherigen Feststellungen des OLG auch kein Fall eines übereinstimmenden abweichenden Verständnisses im Sinne des Senatsurteils vom 22.2.1995 (IV ZR 58/94) vor. Dies setzte voraus, dass der Versicherungsnehmer tatsächlich erkannt hat, dass der Versicherer in Wahrheit etwas anderes erklären wollte. Dies hat das OLG jedoch nicht festgestellt, sondern lediglich ausgeführt, die Klägerin habe nicht erwarten können und dürfen, dass die Beklagte ihren Antrag ohne die Ausbildungsklausel annehme. Positives Wissen um einen vom Inhalt des Versicherungsscheins abweichenden Willen des Versicherers bei Erhalt des Versicherungsscheins folgt daraus nicht.

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