Bestehender Schutz für Aktionäre bei freiwilligem Rückzug einer AG ("Delisting") ist verfassungsgemäß
BVerfG 11.7.2012, 1 BvR 1569/08 u.a.Im fachgerichtlichen Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1569/08 wollte eine Minderheitsaktionärin gegen eine KG auf Aktien sowie deren Mehrheitsaktionärin im Spruchverfahren eine Barabfindung als Ausgleich für den Widerruf der Börsenzulassung durchsetzen. Das Delisting wurde allerdings nur teilweise vollzogen, nämlich als sog. "Downgrading": Die Aktien wurden nach dem Rückzug vom regulierten Markt noch in einem standardisierten Segment des qualifizierten Freiverkehrs gehandelt, dem Segment "m:access" der Börse München. Die Beschwerdeführerin beantragte, eine angemessene Barabfindung festzusetzen.
Die Fachgerichte hielten das Spruchverfahren für unzulässig, weil die Verkehrsfähigkeit der Aktien aufgrund des im Freiverkehr weiterhin funktionierenden Marktes nicht beeinträchtigt und eine Anwendung der "Macrotron-Regeln" deshalb nicht geboten sei.
Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 3142/07 betraf dieselbe Problematik aus der Sicht des Hauptaktionärs: Mit dem von der AG beantragten Widerruf der Börsenzulassung unterbreitete die Beschwerdeführerin als deren Großaktionärin den übrigen Aktionären - nach ihrer Auffassung freiwillig - ein Angebot zum Kauf ihrer Aktien. Einige Aktionäre verlangten in einem Spruchverfahren eine höhere Abfindung.
Hier bejahten die Fachgerichte die Zulässigkeit des Verfahrens. Dagegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde der Hauptaktionärin. Sie war der Ansicht, der Widerruf der Börsenzulassung löse keine Pflicht zu einem Kaufangebot aus. Sie werde in verfassungswidriger Weise einem gesetzlich gar nicht vorgesehenen Spruchverfahren ausgesetzt. Die Fachgerichte hätten bei der von ihnen zugrunde gelegten Gesamtanalogie zu anderen minderheitsaktionärsschützenden Regelungen ihre Befugnis zur Rechtsfortbildung überschritten.
Beide Verfassungsbeschwerden blieben vor dem BVerfG erfolglos.
Die Gründe:
Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 1569/08 war durch die von ihr angegriffenen Entscheidungen nicht in ihrem Eigentumsgrundrecht verletzt worden, weil dessen Schutzbereich durch den Widerruf der Börsenzulassung gar nicht berührt wurde.
Zwar ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die besondere Verkehrsfähigkeit der Aktie als eine "Eigenschaft" des Aktieneigentums anerkannt. Damit zählt aber nur die rechtliche Verkehrsfähigkeit zum erworbenen und über Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Bestand. Die Verkehrsfähigkeit der Aktie, verstanden als rechtliche Befugnis zur jederzeitigen Veräußerung in einem Markt, ist durch einen Widerruf nicht berührt. Auch nicht börsennotierte Aktien sind nach der einfachrechtlichen Ausgestaltung ebenso verkehrsfähig. Die Börsenzulassung im regulierten Markt lässt sich auch nicht wegen der durch sie vermittelten Geltung zahlreicher Sondervorschriften für börsennotierte AG im Aktien- und Handelsrecht oder wegen der im regulierten Markt zur Anwendung gelangenden börsenrechtlichen Standards als Eigentumsbestandteil qualifizieren.
Die im Verfahren 1 BvR 3142/07 angegriffenen Entscheidungen, mit denen das gegen die Beschwerdeführerin beantragte Spruchverfahren zur Überprüfung des von ihr unterbreiteten Aktien-Kaufangebots für zulässig erachtet worden war, waren verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Würdigung der Fachgerichte, bei dem Angebot der Beschwerdeführerin handele es sich um ein Pflichtangebot, das aus einer Gesamtanalogie zu gesetzlichen Regelungen anderer gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen herzuleiten sei (§§ 305, 320b, 327b AktG, §§ 29, 207 UmwG), sowie die daran geknüpfte entsprechende Anwendung des Spruchverfahrensgesetzes wahrten die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Entscheidungsbefugnis (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
Es gibt keine gesetzliche Bestimmung, die vorschreibt, im Fall des Widerrufs der Zulassung der Aktie zum regulierten Markt der Börse müsse der Mehrheitsaktionär oder die Gesellschaft selbst den Minderheitsaktionären einen Ausgleich für eine Beeinträchtigung der Handelbarkeit anbieten. Die Ausgangsgerichte haben diesen kapitalmarktrechtlichen Schutz für unzureichend erachtet und im Ergebnis eine Wertungsgleichheit der vorhandenen Regelungen mit der gesellschaftsrechtlichen Situation beim freiwilligen Delisting in Voraussetzungen und Rechtsfolgen angenommen. Darin lag kein krasser Widerspruch zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers oder sonst eine Lösung vom Recht im Sinne richterlicher Eigenmacht.
Da die Gesamtanalogie hinsichtlich des Erfordernisses eines Pflichtangebots bei einem vollständigen Rückzug von der Börse verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, gilt dies auch für die entsprechende Anwendung der Vorschriften des Spruchverfahrensgesetzes, um die Angemessenheit des angebotenen Kaufpreises einer Überprüfung zuführen zu können. Dem steht auch nicht die Annahme entgegen, dass der Widerruf der Börsenzulassung den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts nicht berührt. Zwar war die Rechtsentwicklung zur Gesamtanalogie davon mitausgelöst, dass der BGH in seiner "Macrotron-Entscheidung" seinerzeit das Aktieneigentum berührt sah. Für die Frage, ob eine richterliche Rechtsfortbildung noch verfassungsgemäß ist, kommt es jedoch nicht darauf an, ob sie u.a. auch auf Art. 14 Abs. 1 GG zurückgeführt werden kann. Denn sie beurteilt sich nicht nach den Motiven, sondern allein danach, ob die Auslegung als solche die Grenzen verfassungsrechtlich statthafter Rechtsfortbildung wahrt.
Die Gesamtanalogie - mit dem Ergebnis, bei einem freiwilligen Delisting ein gerichtlich überprüfbares Pflichtangebot zu verlangen - ist also von Verfassungs wegen zulässig, aber nicht geboten. Es bleibt der weiteren Rechtsprechung der Fachgerichte überlassen, auf der Grundlage der mittlerweile gegebenen Verhältnisse im Aktienhandel zu prüfen, ob die bisherige Spruchpraxis Bestand hat, und zu beurteilen, wie der Wechsel vom regulierten Markt in den qualifizierten Freiverkehr in diesem Zusammenhang zu bewerten ist.
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