03.06.2024

Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren

Ordnet das Insolvenzgericht gegenüber einem mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestatteten vorläufigen Verwalter an, er solle ein Unternehmen in Abstimmung mit dem Schuldner fortführen, folgt daraus ohne ergänzende gerichtliche Anordnung keine Befugnis des Verwalters, Verfügungen anstelle des Schuldners mit Wirkung für und gegen die spätere Insolvenzmasse vorzunehmen. Eine Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn der Schuldner seinen Geschäftsbetrieb bei Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung noch nicht eingestellt hatte. Solange im Eröffnungsverfahren unklar ist, ob ein noch laufender Geschäftsbetrieb vorliegt, entsprechen Maßnahmen des vorläufigen Verwalters in Ausübung einer (vermeintlichen) Pflicht zur Betriebsfortführung nicht der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Verwalters, wenn sie Aufschub dulden.

BGH v. 21.3.2024 - IX ZR 12/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist seit dem 25.1.2019 Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 11.9.2018 am 1.11.2018 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der P. GmbH (Schuldnerin). Der Beklagte war im Eröffnungsverfahren am 12.9.2018 zum vorläufigen Verwalter bestellt worden. Es war ein allgemeiner Zustimmungsvorbehalt angeordnet. Der Beschluss über die Bestellung des Beklagten sah u.a. weiter vor, dass der Beklagte ein Unternehmen, das die Schuldnerin betreibe, bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Abstimmung mit der Schuldnerin fortführen solle.

Die Schuldnerin war als Speditionsunternehmen im Bereich Transport und Logistik von Waren aller Art tätig. In einem Telefonat mit dem Beklagten am 12.9.2018 erklärte der am 30.8.2018 bestellte Geschäftsführer der Schuldnerin, dass er keine Kenntnis von dem Geschäftsbetrieb der Schuldnerin habe und benannte als Ansprechpartner den Geschäftsführer der R. GmbH (R.), für welche die Schuldnerin als Subunternehmerin tätig sei. Ebenfalls am 12.9.2018 begab sich ein anwaltlicher Kollege des Beklagten zur Geschäftsanschrift der Schuldnerin, traf dort aber niemanden an und fand lediglich einige wenige Sattelzugmaschinen und Auflieger vor. In den darauffolgenden Tagen sichtete der Beklagte von der R. überreichte Geschäftsunterlagen der Schuldnerin. Am 25.9.2018 leistete der Beklagte von einem auf seinen Namen geführten Treuhandkonto Zahlungen an die R. auf eine Rechnung vom 11.9.2018 (Leistungszeitraum vom 1. bis zum 11.9.2018) i.H..v. rd. 94.000 € und auf eine Rechnung vom 19.9.2018 (Leistungszeitraum vom 12. bis zum 15.9.2018) i.H.v. rd. 43.000 € jeweils für weiterbelastete Fahrzeugbetriebskosten (Kraftstoffe und Mautgebühren) sowie weitere Zahlungen an verschiedene Hauptzollämter auf Kraftfahrzeugsteuern, deren Höhe der Kläger anteilig für den Zeitraum ab dem Insolvenzantrag auf rd. 3.000 € beziffert.

Am 27.9.2018 teilte der Beklagte dem Insolvenzgericht mit, dass ein Geschäftsführer und ein Mitarbeiter der R. faktische Geschäftsführer der Schuldnerin seien und deshalb ein erhöhtes Potenzial für Interessenkonflikte im Gläubigerausschuss bestehe. Am Folgetag teilte der Beklagte weiter mit, dass eine Betriebsfortführung im Insolvenzantragsverfahren nicht möglich sei, ohne erhebliche Interessen der beteiligten Gläubiger zu gefährden. Von einem Sicherungsgläubiger habe er erfahren, dass die Schuldnerin einige der drittrechtsbelasteten Fahrzeuge an die R. vermiete und diese demnach von der Schuldnerin nicht ausschließlich im Subunternehmerauftrag für die R. genutzt würden. Der Kläger nimmt den Beklagten persönlich wegen der am 25.9.2018 geleisteten Zahlungen auf Schadensersatz i.H.v. rd. 140.000 € nebst Zinsen in Anspruch. Er hält die Begleichung einfacher Insolvenzforderungen durch den Beklagten für pflichtwidrig.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH die Entscheidung des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die angefochtene Entscheidung lässt nicht erkennen, ob der Beklagte zu den hier interessierenden Zahlungen, die er nach den vom OLG in Bezug genommenen Feststellungen des LG selbst leistete, konkret ermächtigt war.

Ein vorläufiger Insolvenzverwalter kann nur aufgrund des Erlasses eines allgemeinen Verfügungsverbots gem. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO umfassend für den Schuldner handeln. Ein allgemeines Verfügungsverbot ist vorliegend nicht erlassen worden. Dagegen bewirkt die im Streitfall erfolgte Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO) lediglich, dass die Wirksamkeit der weiterhin vom Schuldner zu treffenden Verfügung von der vorherigen oder der nachträglichen Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters abhängt. Allein aufgrund eines erlassenen Zustimmungsvorbehalts - ohne ergänzende gerichtliche Anordnung - ist der vorläufige Insolvenzverwalter rechtlich nicht in der Lage, den Schuldner gegen dessen Willen zu Handlungen anzuhalten. Ebenso wenig kann der mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestattete vorläufige Verwalter selbst Verfügungen mit Wirkung für und gegen die spätere Insolvenzmasse vornehmen. Er tritt nicht an die Stelle des Schuldners, sondern an seine Seite und hat kein Initiativrecht.

Das Initiativrecht kann für einzelne Verfügungen auf den vorläufigen Verwalter übertragen werden, indem ihm nach § 22 Abs. 2 Satz 1 InsO entsprechende Pflichten unter Erteilung für deren Erfüllung erforderlicher Einzelermächtigungen ausdrücklich auferlegt werden. Eine entsprechende Ermächtigung kann für bestimmte, abgrenzbare Arten von Maßnahmen erteilt werden. Aus Gründen der Rechtsklarheit und des gebotenen Schutzes von Vertragspartnern muss für diese aus der gerichtlichen Anordnung selbst unmissverständlich zu erkennen sein, mit welchen Einzelbefugnissen - nach Art und Umfang - der vorläufige Insolvenzverwalter ausgestattet ist.

Selbst wenn man von einer hinreichend bestimmten Einzelermächtigung zur Vornahme von Verfügungen im Rahmen der Betriebsfortführung ausgehen wollte, fehlte es an Feststellungen, welche die streitgegenständlichen Zahlungen als pflichtgemäß erscheinen lassen könnten. Eine Betriebsfortführung kommt nur in Betracht, wenn der Schuldner seinen Geschäftsbetrieb bei Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung noch nicht eingestellt hatte. Dementsprechend sah die vom AG getroffene Anordnung vor, dass nur ein noch laufender Geschäftsbetrieb fortgeführt werden sollte ("ein Unternehmen, das die Schuldnerin betreibt"). Feststellungen, welche die Annahme eines noch laufenden Geschäftsbetriebs rechtfertigten, sind nicht getroffen.

Anders als das OLG meint, setzt ein bestehender Geschäftsbetrieb nicht nur das Vorhandensein einer organisatorisch-technischen Einheit voraus. Das Unternehmen muss vielmehr noch am Geschäftsverkehr teilnehmen. Soll gleichwohl im Ausnahmefall ein bereits stillgelegter Geschäftsbetrieb im Eröffnungsverfahren wiederaufgenommen werden, so bedarf es hierzu nicht nur einer gesonderten - hier nicht ersichtlichen - gerichtlichen Beschlussfassung, sondern insbesondere einer besonders gründlichen Überprüfung der Fortführungsaussichten. Denn die vorangegangene Stilllegung hat im Regelfall bereits zur Auflösung oder Beseitigung der für eine Fortführung unerlässlichen Lieferanten- und Kundenbeziehungen - die häufig den einzigen wirtschaftlichen Wert eines (Speditions-)Unternehmens darstellen - sowie der innerbetrieblichen Organisationsstrukturen insbesondere in Form der Belegschaft geführt. Wird die Einstellung erst nach Ernennung des vorläufigen Verwalters festgestellt, hat er dies dem Gericht unverzüglich mitzuteilen. Der Zweck der Unternehmensfortführung als Bestandteil der Haftungsverwirklichung erfordert zudem die Beurteilung des mit der Unternehmensfortführung zu erreichenden Werterhalts. Eine Fortführung des Geschäftsbetriebs ohne plausible und nachvollziehbare Fortführungskonzeption ist pflichtwidrig und vom Insolvenzgericht im Rahmen seiner Aufsichtspflicht zu unterbinden.

Auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen lag bei objektiver Betrachtung für den Beklagten die Einstellung oder das Nichtvorhandensein eines (eigenständigen) Geschäftsbetriebs der Schuldnerin nahe. Unter Berücksichtigung der bisher getroffenen Feststellungen war im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlungen jedenfalls noch unklar, ob es noch einen laufenden Geschäftsbetrieb gab. Deshalb waren - eine entsprechende Verfügungsbefugnis unterstellt - nur solche Maßnahmen des Beklagten pflichtgemäß, deren Umsetzung unter Berücksichtigung der Ziele eines Insolvenzverfahrens keinen Aufschub duldete. Der zu Beginn seiner Tätigkeit abgemilderte Sorgfaltsmaßstab kann dem vorläufigen Verwalter nur dann zugutekommen, wenn er sich auf Eilmaßnahmen beschränkt. Ergreift er bei noch unklarer Lage solche Maßnahmen, die unter Berücksichtigung der Verfahrensziele Aufschub geduldet hätten, verletzt er hingegen seine Pflichten.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | InsO
§ 21 Anordnung vorläufiger Maßnahmen
Laroche in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 22 Rechtsstellung des vorläufigen Insolvenzverwalters
Laroche in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 60 Haftung des Insolvenzverwalters
Lohmann in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

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