Bundesregierung muss Bundestag in Euro-Angelegenheiten früher informieren
BVerfG 19.6.2012, 2 BvE 4/11Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hatte eine Verletzung der Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Euro-Plus-Pakt geltend macht. Nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG muss die Bundesregierung den Deutschen Bundestag "in Angelegenheiten der Europäischen Union" umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt unterrichten. Das Organstreitverfahren musste vor diesem Hintergrund klären, ob die Mitwirkungs- und Unterrichtungsrechte auch zwischenstaatliche Instrumente der genannten Art erfassen können, die von der Bundesregierung im Kontext der europäischen Integration und unionsbezogen behandelt werden.
Das BVerfG hat entschieden, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag sowohl im Hinblick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus als auch hinsichtlich der Vereinbarung des Euro-Plus-Paktes in seinen Unterrichtungsrechten aus Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG verletzt hatte.
Die Gründe:
Aufgrund der Verflechtung mit supranationalen Elementen besitzt der Europäische Stabilitätsmechanismus eine hybride Natur, die ihn zu einer Angelegenheit der EU macht. Die Bundesregierung hatte es allerdings unterlassen, dem Deutschen Bundestag einen ihr spätestens am 21.2.2011 vorliegenden Text der EU-Kommission über die Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus sowie den Entwurf eines Vertrages über den Europäischen Stabilitätsmechanismus in der Form des "Draft Treaty Establishing the European Stability Mechanism (ESM)" vom 6.4.2011 zu übermitteln, und dadurch seine Rechte aus Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG verletzt.
Spätere mündliche oder schriftliche Informationen, insbesondere die Übersendung des in der erweiterten Euro-Gruppe bereits beratenen Entwurfs des Vertrags über den Europäischen Stabilitätsmechanismus am 17. bzw. 18.5.2011, änderten nichts an der Verletzung von Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG. Wie sich bereits aus dem kumulativen Erfordernis frühzeitiger und umfassender Information ergibt, kann bei prozesshaften Vorgängen der vorliegenden Art die Unterrichtungspflicht nicht "in einem Gesamtpaket" erledigt werden.
Die Bundesregierung hat zudem die Rechte des Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG dadurch verletzt, dass sie ihn nicht umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über den Euro-Plus-Pakt unterrichtet hatte. Auch die Vereinbarung des Euro-Plus-Paktes stellt aufgrund ihrer spezifischen Ausrichtung auf das unionale Integrationsprogramm eine Angelegenheit der EU i.S.d. Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG dar. Zum einen hat sie den Deutschen Bundestag nicht vorab über die Initiative für den Beschluss eines Paktes für Wettbewerbsfähigkeit - später Euro-Plus-Pakt - informiert, die am 4.2.2011 auf der Tagung des Europäischen Rates von der Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten vorgestellt worden war.
Darüber hinaus hatte die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag ein inoffizielles Dokument der Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Rates vom 25.2.2011 mit der Bezeichnung "Enhanced Economic Policy Coordination in the Euro Area - Main Features and Concepts" nicht übermittelt, das wesentliche Inhalte des Paktes für Wettbewerbsfähigkeit - später Euro-Plus-Pakt - beschrieb. Die Übermittlung des offiziellen Entwurfs eines Paktes für Wettbewerbsfähigkeit erfolgte erst am 11.3.2011.
Der Euro-Plus-Pakt berührt wichtige Funktionen des Deutschen Bundestages. Namentlich die Selbstverpflichtungen in Bereichen, die der Gesetzgebungszuständigkeit der Mitgliedstaaten unterfallen, wie etwa dem Steuer- und Sozialrecht, und in denen der Gesetzgeber in Zukunft einer Überwachung durch Organe der EU unterworfen wird, betreffen die parlamentarische Verantwortung und sind geeignet, die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers einzuschränken. Daher war in besonderem Maße dessen umfassende und frühzeitige Unterrichtung geboten.
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