Entschädigungen nach Lkw-Kartell in Spanien: Zum zeitlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/104/EU
EuGH, C-267/20: Schlussanträge des Generalanwalts vom 28.10.2021
Der Sachverhalt:
Am 19.7.2016 stellte die EU-Kommission fest, dass mehrere Lkw-Hersteller, darunter AB Volvo und DAF Trucks, von 1997 bis 2011 an einem Kartell beteiligt waren, das sich u. a. auf die Preise der Lkw bezog. RM, der in den Jahren 2006 und 2007 drei von diesen beiden Unternehmen hergestellte Lkw erworben hatte, erhob am 1.4.2018 bei einem spanischen Gericht Klage auf Ersatz des aus dem wettbewerbswidrigen Verhalten entstandenen Schadens. Seiner Klage wurde vom Gericht erster Instanz teilweise stattgegeben, das Volvo und DAF Trucks zur Zahlung eines Schadensersatzes i.H.v. 15 % des Kaufpreises der Lkw verurteilte. Das Gericht wies die von Volvo und DAF Trucks geltend gemachte Einrede, die Klage sei verjährt, zurück und kam zu dem Schluss, dass die in den spanischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU über die Entschädigung der Opfer wettbewerbswidriger Praktiken vorgesehene Fünfjahresfrist anwendbar sei. Zudem brachte das Gericht nach denselben Rechtsvorschriften die Vermutung zur Anwendung, dass die in Rede stehenden Zuwiderhandlungen einen Schaden verursachen, und machte von seiner Befugnis Gebrauch, den Schaden zu schätzen, wie dies in zwei Bestimmungen der Richtlinie vorgesehen ist.
Die beiden Unternehmen legten Berufung ein. Sie brachten zum einen vor, die Klage sei verjährt, da die Jahresfrist der ihrer Meinung nach anwendbaren Regelung über die außervertragliche Haftung des Zivilgesetzbuchs ab der Bekanntgabe der Pressemitteilung der Kommission am 19.7.2016 zu laufen begonnen habe. Zum anderen gebe es keine Beweise für einen Kausalzusammenhang zwischen dem im Beschluss der Kommission beschriebenen Verhalten und der Erhöhung des Preises der von RM erworbenen Lkw.
Das mit der Sache befasste Berufungsgericht in Spanien setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betreffen den zeitlichen Anwendungsbereich einiger Bestimmungen der Richtlinie, die anwendbare Verjährungsfrist, die Schadensschätzung sowie die Frage, ob die auf Schadensersatzklagen infolge wettbewerbsrechtlicher Zuwiderhandlungen anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften in Anbetracht von Art. 101 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar sind.
Die Gründe:
Der zeitliche Anwendungsbereich der Richtlinie ist begrenzt, da sie zwischen materiell-rechtlichen Vorschriften, die für vor ihrem Inkrafttreten "entstandene Sachverhalte" nicht rückwirkend gelten, und Verfahrensvorschriften unterscheidet, die im Rahmen von nach Inkrafttreten der Richtlinie (26.12.2014) erhobenen Klagen gelten. Die Beurteilung, ob die Bestimmungen der Richtlinie materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art sind, ist im Hinblick auf das Unionsrecht und nicht im Hinblick auf das nationale Recht vorzunehmen. Konkret gehört die Regelung der Richtlinie über die Verjährungsfrist zum materiellen Recht, da diese Frist sowohl den Geschädigten als auch den für den Schaden Verantwortlichen schützen soll. Daher ist die in der Richtlinie vorgesehene Fünfjahresfrist auf eine Klage wie die in Rede stehende nicht anwendbar, die, obwohl sie nach dem Inkrafttreten der Richtlinie und der nationalen Umsetzungsbestimmungen (26.5.2017) erhoben worden ist, einen Sachverhalt und Sanktionen vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmungen betrifft.
Die Richtlinienbestimmung, wonach vermutet wird, dass Zuwiderhandlungen in Form von Kartellen einen Schaden verursachen, ist materieller Art. Dadurch, dass die Beweislast dem Rechtsverletzer auferlegt und der Geschädigte von der Pflicht entbunden wird, zu beweisen, dass ein aufgrund eines Kartells erlittener Schaden vorliegt, steht diese Bestimmung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zuweisung der außervertraglichen zivilrechtlichen Haftung an denjenigen, der die betreffende Zuwiderhandlung begangen hat und berührt folglich unmittelbar dessen rechtliche Situation. Hinsichtlich spezieller nationaler Normen, mit denen die Bestimmung umgesetzt wird, die eine Vermutung vorsieht, nach der durch Kartelle ein Schaden verursacht wird, ist festzuhalten, dass im Rahmen von Schadensersatzklagen, die nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Bestimmungen erhoben werden, die Richtlinie dem entgegensteht, dass diese auf Zuwiderhandlungen angewandt werden, die vor deren Inkrafttreten begangen worden sind.
Dagegen sind die nationalen Umsetzungsvorschriften, die erlassen worden sind, um der Richtlinienbestimmung über die Befugnis des Gerichts zur Schätzung des Schadens nachzukommen, Verfahrensvorschriften und können im Rahmen einer nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Umsetzungsvorschrift erhobenen Schadensersatzklage auf Schäden infolge einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Anwendung finden, die vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift endete. Zu prüfen war danach die Vereinbarkeit der im spanischen Zivilgesetzbuch vorgesehenen Regelung der außervertraglichen Haftung mit dem Effektivitätsgrundsatz, wonach jeder, der einen Schaden erlitten hat, in der Lage sein muss, den Ersatz des Schadens zu verlangen. Hinsichtlich der Dauer der Verjährungsfrist ist einzuräumen, dass die Jahresfrist der spanischen Rechtsvorschriften erheblich kürzer ist als die Fünfjahresfrist der Richtlinie, es sind aber weitere Elemente der nationalen Verjährungsregelung zu berücksichtigen.
In Bezug auf den Starttag für die Berechnung der einjährigen Verjährungsfrist des Zivilgesetzbuchs gilt, dass diese Frist an dem Tag zu laufen beginnt, an dem die Zusammenfassung des Beschlusses der Kommission im Amtsblatt der EU veröffentlicht wird, d.h. am 6.6.2017. Dies bedeutet, dass die vom Erwerber der Lkw (RM) am 1.4.2018 angestrengte Schadensersatzklage nicht verjährt ist. Es ist ausgeschlossen, dass diese Frist möglicherweise am Tag der Veröffentlichung der Pressemitteilung der Kommission über ihren die Zuwiderhandlung feststellenden Beschluss zu laufen beginnt. Die bloße Veröffentlichung dieses Dokuments ermöglicht es dem Geschädigten nicht, von allen Informationen Kenntnis zu nehmen, die für die Ausübung seines Rechts auf eine Schadensersatzklage erforderlich sind. Die Opfer von wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlungen unterliegen auch keiner "Sorgfaltspflicht", nach der sie die Veröffentlichung solcher Pressemitteilungen verfolgen müssen. Schließlich hindert der Umstand, dass die in der Richtlinie vorgesehene Schadensvermutung in der vorliegenden Rechtssache keine Anwendung findet, die nationalen Gerichte nicht daran, Vermutungen über die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines Schadens anzuwenden, die vor den jeweiligen nationalen Umsetzungsbestimmungen existierten, deren Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Unionsrechts unter Berücksichtigung insbesondere der allgemeinen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu beurteilen ist.
EuGH PM Nr. 193 vom 28.10.2021
Am 19.7.2016 stellte die EU-Kommission fest, dass mehrere Lkw-Hersteller, darunter AB Volvo und DAF Trucks, von 1997 bis 2011 an einem Kartell beteiligt waren, das sich u. a. auf die Preise der Lkw bezog. RM, der in den Jahren 2006 und 2007 drei von diesen beiden Unternehmen hergestellte Lkw erworben hatte, erhob am 1.4.2018 bei einem spanischen Gericht Klage auf Ersatz des aus dem wettbewerbswidrigen Verhalten entstandenen Schadens. Seiner Klage wurde vom Gericht erster Instanz teilweise stattgegeben, das Volvo und DAF Trucks zur Zahlung eines Schadensersatzes i.H.v. 15 % des Kaufpreises der Lkw verurteilte. Das Gericht wies die von Volvo und DAF Trucks geltend gemachte Einrede, die Klage sei verjährt, zurück und kam zu dem Schluss, dass die in den spanischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU über die Entschädigung der Opfer wettbewerbswidriger Praktiken vorgesehene Fünfjahresfrist anwendbar sei. Zudem brachte das Gericht nach denselben Rechtsvorschriften die Vermutung zur Anwendung, dass die in Rede stehenden Zuwiderhandlungen einen Schaden verursachen, und machte von seiner Befugnis Gebrauch, den Schaden zu schätzen, wie dies in zwei Bestimmungen der Richtlinie vorgesehen ist.
Die beiden Unternehmen legten Berufung ein. Sie brachten zum einen vor, die Klage sei verjährt, da die Jahresfrist der ihrer Meinung nach anwendbaren Regelung über die außervertragliche Haftung des Zivilgesetzbuchs ab der Bekanntgabe der Pressemitteilung der Kommission am 19.7.2016 zu laufen begonnen habe. Zum anderen gebe es keine Beweise für einen Kausalzusammenhang zwischen dem im Beschluss der Kommission beschriebenen Verhalten und der Erhöhung des Preises der von RM erworbenen Lkw.
Das mit der Sache befasste Berufungsgericht in Spanien setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betreffen den zeitlichen Anwendungsbereich einiger Bestimmungen der Richtlinie, die anwendbare Verjährungsfrist, die Schadensschätzung sowie die Frage, ob die auf Schadensersatzklagen infolge wettbewerbsrechtlicher Zuwiderhandlungen anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften in Anbetracht von Art. 101 AEUV und des Effektivitätsgrundsatzes mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar sind.
Die Gründe:
Der zeitliche Anwendungsbereich der Richtlinie ist begrenzt, da sie zwischen materiell-rechtlichen Vorschriften, die für vor ihrem Inkrafttreten "entstandene Sachverhalte" nicht rückwirkend gelten, und Verfahrensvorschriften unterscheidet, die im Rahmen von nach Inkrafttreten der Richtlinie (26.12.2014) erhobenen Klagen gelten. Die Beurteilung, ob die Bestimmungen der Richtlinie materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art sind, ist im Hinblick auf das Unionsrecht und nicht im Hinblick auf das nationale Recht vorzunehmen. Konkret gehört die Regelung der Richtlinie über die Verjährungsfrist zum materiellen Recht, da diese Frist sowohl den Geschädigten als auch den für den Schaden Verantwortlichen schützen soll. Daher ist die in der Richtlinie vorgesehene Fünfjahresfrist auf eine Klage wie die in Rede stehende nicht anwendbar, die, obwohl sie nach dem Inkrafttreten der Richtlinie und der nationalen Umsetzungsbestimmungen (26.5.2017) erhoben worden ist, einen Sachverhalt und Sanktionen vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmungen betrifft.
Die Richtlinienbestimmung, wonach vermutet wird, dass Zuwiderhandlungen in Form von Kartellen einen Schaden verursachen, ist materieller Art. Dadurch, dass die Beweislast dem Rechtsverletzer auferlegt und der Geschädigte von der Pflicht entbunden wird, zu beweisen, dass ein aufgrund eines Kartells erlittener Schaden vorliegt, steht diese Bestimmung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zuweisung der außervertraglichen zivilrechtlichen Haftung an denjenigen, der die betreffende Zuwiderhandlung begangen hat und berührt folglich unmittelbar dessen rechtliche Situation. Hinsichtlich spezieller nationaler Normen, mit denen die Bestimmung umgesetzt wird, die eine Vermutung vorsieht, nach der durch Kartelle ein Schaden verursacht wird, ist festzuhalten, dass im Rahmen von Schadensersatzklagen, die nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Bestimmungen erhoben werden, die Richtlinie dem entgegensteht, dass diese auf Zuwiderhandlungen angewandt werden, die vor deren Inkrafttreten begangen worden sind.
Dagegen sind die nationalen Umsetzungsvorschriften, die erlassen worden sind, um der Richtlinienbestimmung über die Befugnis des Gerichts zur Schätzung des Schadens nachzukommen, Verfahrensvorschriften und können im Rahmen einer nach dem Inkrafttreten dieser nationalen Umsetzungsvorschrift erhobenen Schadensersatzklage auf Schäden infolge einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Anwendung finden, die vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift endete. Zu prüfen war danach die Vereinbarkeit der im spanischen Zivilgesetzbuch vorgesehenen Regelung der außervertraglichen Haftung mit dem Effektivitätsgrundsatz, wonach jeder, der einen Schaden erlitten hat, in der Lage sein muss, den Ersatz des Schadens zu verlangen. Hinsichtlich der Dauer der Verjährungsfrist ist einzuräumen, dass die Jahresfrist der spanischen Rechtsvorschriften erheblich kürzer ist als die Fünfjahresfrist der Richtlinie, es sind aber weitere Elemente der nationalen Verjährungsregelung zu berücksichtigen.
In Bezug auf den Starttag für die Berechnung der einjährigen Verjährungsfrist des Zivilgesetzbuchs gilt, dass diese Frist an dem Tag zu laufen beginnt, an dem die Zusammenfassung des Beschlusses der Kommission im Amtsblatt der EU veröffentlicht wird, d.h. am 6.6.2017. Dies bedeutet, dass die vom Erwerber der Lkw (RM) am 1.4.2018 angestrengte Schadensersatzklage nicht verjährt ist. Es ist ausgeschlossen, dass diese Frist möglicherweise am Tag der Veröffentlichung der Pressemitteilung der Kommission über ihren die Zuwiderhandlung feststellenden Beschluss zu laufen beginnt. Die bloße Veröffentlichung dieses Dokuments ermöglicht es dem Geschädigten nicht, von allen Informationen Kenntnis zu nehmen, die für die Ausübung seines Rechts auf eine Schadensersatzklage erforderlich sind. Die Opfer von wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlungen unterliegen auch keiner "Sorgfaltspflicht", nach der sie die Veröffentlichung solcher Pressemitteilungen verfolgen müssen. Schließlich hindert der Umstand, dass die in der Richtlinie vorgesehene Schadensvermutung in der vorliegenden Rechtssache keine Anwendung findet, die nationalen Gerichte nicht daran, Vermutungen über die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines Schadens anzuwenden, die vor den jeweiligen nationalen Umsetzungsbestimmungen existierten, deren Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Unionsrechts unter Berücksichtigung insbesondere der allgemeinen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu beurteilen ist.