09.02.2022

EuGH-Vorlage: Vollständige Verbraucherinformationen erst im Nachgang mit der Versicherungspolice übermittelt

Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und Art. 15 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, ggf. in Verbindung mit Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einer nationalen Regelung entgegen, wonach die vollständigen Verbraucherinformationen erst im Nachgang zu einem Antrag des Verbrauchers, nämlich mit der Versicherungspolice, übermittelt werden ("Policenmodell")?
 

LG Erfurt v. 30.12.2021 - 8 O 1519/20
Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte mit der beklagten Versicherung in den Jahren 1998 bis 2002 drei Rentenversicherungsverträge abgeschlossen. Dabei wurden ihm die Versicherungsbedingungen sowie die Verbraucherinformationen mit der Versicherungspolice übermittelt. Zwei Verträge sind - nach Ausübung des eingeräumten Kapitalwahlrechts - in den Jahren 2016 bzw. 2019 abgerechnet, d. h. beidseitig vollständig beendet worden.

Der Kläger erhob im Jahr 2020 gegen sämtliche Versicherungsverträge bzw. gegen deren Zustandekommen nach § 5a VVG alter Fassung Widerspruch. Er war der Ansicht, dass das Policenmodell unionsrechtswidrig sei und er bereits hieraus ein "ewiges Recht" zum Widerspruch habe. Zudem stützte er seinen Widerspruch darauf, dass notwendige Verbraucherinformationen fehlten oder unvollständig waren. Zum einen ermangele es an der Pflichtangabe über die optionale Kapitalabfindung für den Fall, dass der Vertrag vorzeitig beitragsfrei gestellt werde. Zum anderen fehle es an der notwendigen Angabe zur Ermittlung von Überschüssen.

Der Kläger verlangte - aus ungerechtfertigter Bereicherung - im Wesentlichen die Rückzahlung zwischenzeitlich gezahlter Prämien sowie die Herausgabe von Nutzungen, die der Versicherer aus den Prämien gezogen hat. Die beklagte Versicherung geht sowohl von einer ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung als auch von der Übermittlung sämtlicher wesentlicher Verbraucherinformationen aus. Im Übrigen berief sie sich auf Verwirkung und Rechtsmissbrauch i.S.d. § 242 BGB. Zwischen den Parteien stand hierbei im Streit, ob die aktuelle EuGH-Rechtsprechung zum Widerruf von Verbraucherdarlehen auf das Versicherungsrecht übertragbar ist.

Das LG hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt.

Die Gründe:
Im Mittelpunkt der Vorlage befindet sich die Problematik, welchen Grenzen die Ausübung von Verbraucherrechten im Versicherungsrecht unterliegt.

Dem EuGH werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:

1. Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und Art. 15 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, ggf. in Verbindung mit Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einer nationalen Regelung entgegen, wonach die vollständigen Verbraucherinformationen erst im Nachgang zu einem Antrag des Verbrauchers, nämlich mit der Versicherungspolice, übermittelt werden ("Policenmodell")?

Falls dies zu bejahen ist: Ergibt sich allein hieraus ein Recht des Verbrauchers zum Widerspruch, d. h. auf Rückabwicklung des Versicherungsvertrages?

Könnte einem solchen Recht der Einwand der Verwirkung oder des Rechtsmissbrauchs entgegenstehen, oder gibt es sonstige, etwa zeitliche Grenzen für die Rechtsausübung?

2. Ist es einem Versicherer, der dem Verbraucher entweder keine oder nur eine fehlerhafte Belehrung über dessen Widerspruchsrecht erteilt hat, untersagt, sich gegenüber den sich hieraus ergebenden Rechten des Verbrauchers wie insbesondere dem Widerspruchsrecht auf Verwirkung, Rechtsmissbrauch oder Zeitablauf zu berufen?

3. Ist es einem Versicherer, der dem Verbraucher keine oder nur unvollständige oder fehlerhafte Verbraucherinformationen übermittelt hat, untersagt, gegenüber den sich hieraus ergebenden Rechten des Verbrauchers wie insbesondere dem Widerspruchsrecht auf Verwirkung, Rechtsmissbrauch oder Zeitablauf zu berufen?

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