Fluggäste können bei Flugannullierung auch Entschädigung für immateriellen Schaden verlangen
EuGH 13.10.2010, C-83/10Die Kläger, die Familien Pato Rodríguez und López Sousa sowie Herr Rodrigo Manuel Puga Lueiro, hatten für den 25.9.2008 einen Flug mit Air France von Paris (Frankreich) nach Vigo (Spanien) gebucht. Das Flugzeug startete planmäßig, musste aber kurz darauf wegen eines technischen Problems zum Flughafen Charles de Gaulle zurückkehren. Diese sieben Fluggäste wurden auf andere Flüge am folgenden Tag umgebucht, aber nur Herrn Puga Lueiro wurde während der Wartezeit eine Unterstützungsleistung von der Fluggesellschaft angeboten. Die Familie Pato Rodríguez wurde über Porto anderweitig befördert und musste von dort ein Taxi nach Vigo, ihrem Wohnort, nehmen.
Die Kläger erhoben Klage auf Zahlung von jeweils 250 € als Ausgleichszahlung für die Annullierung des Flugs. Ferner verlangt die Familie Pato Rodríguez 170 €, um die Kosten der Taxifahrt zu decken, und 650 € pro Person zum Ersatz des immateriellen Schadens. Die Familie López Sousa verlangt ebenfalls jeweils 650 € zum Ersatz des immateriellen Schadens sowie die Erstattung von Auslagen für am Flughafen eingenommenes Essen und für einen zusätzlichen Tag Hundepension für ihren Hund. Herr Puga Lueiro begehrt 300 € zum Ersatz des ihm entstandenen immateriellen Schadens.
Das mit der Rechtssache befasste Handelsgericht in Pontevedra (Spanien) fragt den EuGH, ob der vorliegende Sachverhalt als "Annullierung" eines Flugs anzusehen ist. Zudem möchte das spanische Gericht wissen, ob der "weiter gehende Schadensersatz", den die Fluggäste geltend machen können, jede Art von Schaden, einschließlich immaterieller Schäden, umfasst und ob dieser Schadensersatz auch die Kosten beinhaltet, die den Fluggästen entstanden sind, weil das Luftfahrtunternehmen seiner Pflicht, Unterstützung und Betreuung zu leisten, nicht nachgekommen ist.
Die Gründe:
Der Begriff "Annullierung" beinhaltet nicht ausschließlich den Fall, dass das betreffende Flugzeug überhaupt nicht startet. Umfasst ist auch die Variante, dass ein Flugzeug - wie im Streitfall - gestartet ist, aber anschließend, aus welchen Gründen auch immer, zum Ausgangsflughafen zurückkehren muss, und die Fluggäste auf andere Flüge umgebucht wurden. Der Flug kann dann in seiner ursprünglich vorgesehenen Form nicht als durchgeführt betrachtet werden.
Ob eine "Annullierung" vorliegt, ergibt sich aus der individuellen Situation jedes beförderten Fluggasts. Es ist demnach zu prüfen, ob in Bezug auf den betreffenden Fluggast die ursprüngliche Planung des Flugs aufgegeben wurde. Dabei liegt eine Annullierung des Flugs nicht nur dann vor, wenn alle Fluggäste, die den ursprünglich geplanten Flug gebucht hatten, mit einem anderen Flug befördert wurden. Aus der Tatsache, dass die sieben Fluggäste im Streitfall ihr Endziel nach Umbuchung auf andere, für den Folgetag des vorgesehenen Abflugtags geplante Flüge erreichten, folgt, dass ihr jeweiliger ursprünglich geplanter Flug als annulliert einzustufen ist.
Der Begriff "weiter gehender Schadensersatz" ermöglicht es dem nationalen Gericht, Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen immateriellen Schaden zu gewähren, und zwar unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts. Dieser Schadensersatz soll die Durchführung der in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen standardisierten und sofortigen Maßnahmen ergänzen. Demnach kann den Fluggästen der gesamte materielle und immaterielle Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrtunternehmens entstanden ist, ersetzt werden, und zwar unter den Voraussetzungen und Grenzen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts.
Verletzt ein Luftfahrtunternehmen die ihm nach der Verordnung obliegenden Unterstützungspflichten (Erstattung der Flugscheinkosten oder anderweitige Beförderung zum Endziel, Tragung der Kosten für die Beförderung des Fluggasts von einem anderen Flughafen zu dem ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen) und Betreuungspflichten (Verpflegungs-, Unterbringungs- und Kommunikationskosten), sind die Fluggäste berechtigt, einen Ausgleichsanspruch geltend zu machen. Diese Ansprüche können jedoch, da sie sich unmittelbar aus der Verordnung ergeben, nicht als "weiter gehender" Schadensersatz angesehen werden.
Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.