Gerichtliche Zuständigkeit für Schadensersatzklagen hinsichtlich Kartellabsprachen über die Verkaufspreise von Lkw
EuGH v. 15.7.2021 - C-30/20
Der Sachverhalt:
Die Klägerin, ein Unternehmen mit Sitz in Cordoba (Spanien), erwarb dort zwischen 2004 und 2009 bei einem Vertragshändler der Volvo Group España (einer Gesellschaft mit Sitz in Madrid, Spanien) fünf Lkw. Am 19.7.2016 erließ die Kommission einen Beschluss, mit dem sie das Vorliegen einer Kartellabsprache feststellte, an der zwischen 1997 und 2011 15 internationale Lkw-Hersteller beteiligt waren, zu denen auch Volvo (Schweden), Volvo Group Trucks Central Europe (Deutschland) und Volvo Lastvagnar (Schweden) gehörten. Betroffen waren zwei Arten von Produkten, nämlich Lkw zwischen 6 und 16 Tonnen sowie Lkw über 16 Tonnen, bei denen es sich sowohl um Solofahrzeuge als auch um Sattelzugmaschinen handelte. Die Kommission war der Auffassung, dass sich die Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV über den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erstreckt habe. Infolgedessen verhängte sie gegen alle beteiligten Unternehmen Geldbußen, mit Ausnahme eines Unternehmens, dem die Geldbuße infolge eines Kronzeugenverfahrens vollständig erlassen wurde.
Die Klägerin erhob beim Handels- und Konkursgericht Nr. 2 in Madrid Klage auf Zahlung von Schadensersatz gegen folgende Gesellschaften des Volvokonzerns: Volvo, Volvo Group Trucks Central Europe, Volvo Lastvagnar und Volvo Group España. Zur Begründung ihrer Klage trug die Klägerin vor, dass sie die fünf oben genannten Fahrzeuge zu einem überhöhten Preis gekauft habe, der auf die von der Kommission mit Sanktionen belegten Absprachen zurückzuführen sei, und dass ihr dadurch ein Schaden entstanden sei. Die Gesellschaften des Volvokonzerns bestritten zwar nicht die örtliche Zuständigkeit des spanischen Gerichts, wohl aber dessen internationale Zuständigkeit, da nach ihrer Auffassung das schädigende Ereignis i.S.d. Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit nicht an dem Ort des Sitzes der klagenden spanischen Gesellschaft, sondern an dem Ort eingetreten sei, an dem die Lkw-Kartellabsprache getroffen wurde, also in anderen Mitgliedstaaten.
Das spanische Gericht hat Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung. Nach seiner Auffassung ist nämlich zu klären, ob diese Bestimmung lediglich eine Regel für die internationale Zuständigkeit enthält oder ob es sich um eine doppelte oder gemischte Vorschrift handelt, die gleichzeitig die nationale örtliche Zuständigkeit regelt. Es hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Die Gründe:
Art. 7 Nr. 2 der Verordnung ist dahin auszulegen, dass für eine Klage auf Ersatz eines Schadens, der durch gegen Art. 101 AEUV verstoßende Absprachen über Preise und Preiserhöhungen für Gegenstände verursacht worden ist, innerhalb des von diesen Absprachen betroffenen Marktes international und örtlich unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs entweder dasjenige Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk das Unternehmen, das sich für geschädigt erachtet, die von den genannten Absprachen betroffenen Gegenstände gekauft hat, oder - wenn das betroffene Unternehmen die Gegenstände an mehreren Orten gekauft hat - dasjenige Gericht, in dessen Bezirk sich der Sitz dieses Unternehmens befindet.
Mit dem Ausdruck "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" ist i.S.v. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung sowohl der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs als auch der Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens gemeint, so dass der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden kann. Die dem geltend gemachten Schaden zugrundeliegende Zuwiderhandlung erstreckt sich auf den gesamten EWR-Markt und hat dort zu einer Wettbewerbsverzerrung geführt. Der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs liegt also in diesem Markt, zu dem Spanien gehört. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung weist dem Gericht desjenigen Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist, direkt und unmittelbar sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit zu. Allerdings fällt die Festlegung des Gerichtsbezirks, in dem sich der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs befindet, grundsätzlich unter die organisatorischen Befugnisse des Mitgliedstaats, zu dem dieses Gericht gehört. Dieser Mitgliedstaat kann Zuständigkeiten - etwa im Interesse einer geordneten Rechtspflege - vor einem einzigen spezialisierten Gericht bündeln.
Fehlt es an einem solchen spezialisierten Gericht, so muss der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs zur Ermittlung desjenigen Gerichts, das in den Mitgliedstaaten für die Entscheidung über eine Schadensersatzklage zuständig ist, im Einklang mit den Zielen der Nähe und der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln sowie der geordneten Rechtspflege bestimmt werden. Insoweit sind zwei Fallgestaltungen voneinander abzugrenzen: Wenn der geschädigte Käufer in nur einem einzigen Gerichtsbezirk Gegenstände gekauft hat, die von den in Rede stehenden Kartellabsprachen betroffen sind, ist das Gericht dieses Bezirks zuständig. Das geschädigte Unternehmen kann, wenn die Gegenstände an mehreren Orten gekauft wurden, unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs das Gericht des Ortes anrufen, an dem es seinen Sitz hat. Diese Zuweisung steht mit dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit in Einklang, weil den Beklagten, die Mitglieder des Kartells sind, nicht unbekannt sein kann, dass die Käufer der fraglichen Gegenstände im von den Kartellpraktiken betroffenen Markt ansässig sind. Zudem trägt dies auch dem Ziel der räumlichen Nähe Rechnung, und der Ort, an dem das geschädigte Unternehmen seinen Sitz hat, bietet alle Garantien für die sachgerechte Gestaltung eines eventuellen Prozesses.
EuGH PM Nr. 137 Vom 15.7.2021
Die Klägerin, ein Unternehmen mit Sitz in Cordoba (Spanien), erwarb dort zwischen 2004 und 2009 bei einem Vertragshändler der Volvo Group España (einer Gesellschaft mit Sitz in Madrid, Spanien) fünf Lkw. Am 19.7.2016 erließ die Kommission einen Beschluss, mit dem sie das Vorliegen einer Kartellabsprache feststellte, an der zwischen 1997 und 2011 15 internationale Lkw-Hersteller beteiligt waren, zu denen auch Volvo (Schweden), Volvo Group Trucks Central Europe (Deutschland) und Volvo Lastvagnar (Schweden) gehörten. Betroffen waren zwei Arten von Produkten, nämlich Lkw zwischen 6 und 16 Tonnen sowie Lkw über 16 Tonnen, bei denen es sich sowohl um Solofahrzeuge als auch um Sattelzugmaschinen handelte. Die Kommission war der Auffassung, dass sich die Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV über den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erstreckt habe. Infolgedessen verhängte sie gegen alle beteiligten Unternehmen Geldbußen, mit Ausnahme eines Unternehmens, dem die Geldbuße infolge eines Kronzeugenverfahrens vollständig erlassen wurde.
Die Klägerin erhob beim Handels- und Konkursgericht Nr. 2 in Madrid Klage auf Zahlung von Schadensersatz gegen folgende Gesellschaften des Volvokonzerns: Volvo, Volvo Group Trucks Central Europe, Volvo Lastvagnar und Volvo Group España. Zur Begründung ihrer Klage trug die Klägerin vor, dass sie die fünf oben genannten Fahrzeuge zu einem überhöhten Preis gekauft habe, der auf die von der Kommission mit Sanktionen belegten Absprachen zurückzuführen sei, und dass ihr dadurch ein Schaden entstanden sei. Die Gesellschaften des Volvokonzerns bestritten zwar nicht die örtliche Zuständigkeit des spanischen Gerichts, wohl aber dessen internationale Zuständigkeit, da nach ihrer Auffassung das schädigende Ereignis i.S.d. Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit nicht an dem Ort des Sitzes der klagenden spanischen Gesellschaft, sondern an dem Ort eingetreten sei, an dem die Lkw-Kartellabsprache getroffen wurde, also in anderen Mitgliedstaaten.
Das spanische Gericht hat Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung. Nach seiner Auffassung ist nämlich zu klären, ob diese Bestimmung lediglich eine Regel für die internationale Zuständigkeit enthält oder ob es sich um eine doppelte oder gemischte Vorschrift handelt, die gleichzeitig die nationale örtliche Zuständigkeit regelt. Es hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Die Gründe:
Art. 7 Nr. 2 der Verordnung ist dahin auszulegen, dass für eine Klage auf Ersatz eines Schadens, der durch gegen Art. 101 AEUV verstoßende Absprachen über Preise und Preiserhöhungen für Gegenstände verursacht worden ist, innerhalb des von diesen Absprachen betroffenen Marktes international und örtlich unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs entweder dasjenige Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk das Unternehmen, das sich für geschädigt erachtet, die von den genannten Absprachen betroffenen Gegenstände gekauft hat, oder - wenn das betroffene Unternehmen die Gegenstände an mehreren Orten gekauft hat - dasjenige Gericht, in dessen Bezirk sich der Sitz dieses Unternehmens befindet.
Mit dem Ausdruck "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" ist i.S.v. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung sowohl der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs als auch der Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens gemeint, so dass der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden kann. Die dem geltend gemachten Schaden zugrundeliegende Zuwiderhandlung erstreckt sich auf den gesamten EWR-Markt und hat dort zu einer Wettbewerbsverzerrung geführt. Der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs liegt also in diesem Markt, zu dem Spanien gehört. Art. 7 Nr. 2 der Verordnung weist dem Gericht desjenigen Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist, direkt und unmittelbar sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit zu. Allerdings fällt die Festlegung des Gerichtsbezirks, in dem sich der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs befindet, grundsätzlich unter die organisatorischen Befugnisse des Mitgliedstaats, zu dem dieses Gericht gehört. Dieser Mitgliedstaat kann Zuständigkeiten - etwa im Interesse einer geordneten Rechtspflege - vor einem einzigen spezialisierten Gericht bündeln.
Fehlt es an einem solchen spezialisierten Gericht, so muss der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs zur Ermittlung desjenigen Gerichts, das in den Mitgliedstaaten für die Entscheidung über eine Schadensersatzklage zuständig ist, im Einklang mit den Zielen der Nähe und der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln sowie der geordneten Rechtspflege bestimmt werden. Insoweit sind zwei Fallgestaltungen voneinander abzugrenzen: Wenn der geschädigte Käufer in nur einem einzigen Gerichtsbezirk Gegenstände gekauft hat, die von den in Rede stehenden Kartellabsprachen betroffen sind, ist das Gericht dieses Bezirks zuständig. Das geschädigte Unternehmen kann, wenn die Gegenstände an mehreren Orten gekauft wurden, unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs das Gericht des Ortes anrufen, an dem es seinen Sitz hat. Diese Zuweisung steht mit dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit in Einklang, weil den Beklagten, die Mitglieder des Kartells sind, nicht unbekannt sein kann, dass die Käufer der fraglichen Gegenstände im von den Kartellpraktiken betroffenen Markt ansässig sind. Zudem trägt dies auch dem Ziel der räumlichen Nähe Rechnung, und der Ort, an dem das geschädigte Unternehmen seinen Sitz hat, bietet alle Garantien für die sachgerechte Gestaltung eines eventuellen Prozesses.