Grundsatz "iura novit curia" schränkt Darlegungspflicht des Rechtsanwalts nicht ein
BGH 10.12.2015, IX ZR 272/14Die Klägerin betraute die D-GmbH auf der Grundlage eines Speditionsvertrages mit der Verschiffung mehrerer Maschinen von den Vereinigten Staaten von Amerika nach Frankreich. Da die Maschinen bei der Überfahrt Schäden erlitten, nahm die durch den beklagten Rechtsanwalt vertretene Klägerin in einem Vorprozess die D-GmbH wegen der Verletzung speditioneller Pflichten auf Schadensersatz i.H.v. rd. 130.000 € in Anspruch.
Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens war streitig, ob eine Allgefahrenversicherung ("All risk") oder lediglich eine Strandungsfalldeckung ("C-Klausel") vereinbart war. Der Klage wurde durch rechtskräftiges Urteil des OLG Frankfurt a.M., das sich mit der Frage der Versicherungseindeckung nicht befasste, lediglich i.H.v. rd. 14.000 € stattgegeben.
Die Klägerin wirft dem Beklagten vor, in dem Vorprozess nicht hinreichend geltend gemacht zu haben, dass die D-GmbH zum Abschluss einer Allgefahrenversicherung verpflichtet gewesen sei, die den gesamten eingetretenen Schaden einbegriffen hätte. Mit ihrer Klage macht die Klägerin - einschließlich der Kosten des Ausgangsverfahrens - Schadensersatz i.H.v. rd. 140.000 € geltend.
LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Ein Rechtsanwalt, der per Klage einen Anspruch seines Mandanten geltend macht, hat die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, damit sie das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen kann. Zwar liegen die Entscheidung und damit die rechtliche Beurteilung des Streitfalls beim Gericht; dieses trägt für sein Urteil die volle Verantwortung. Es widerspräche jedoch der rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Prozessbevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen, würde man ihre Aufgabe allein in der Beibringung des Tatsachenmaterials sehen. Vielmehr hat er gegenüber seinem Mandanten die Pflicht, die Möglichkeit zu nutzen, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen und nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken. Dies entspricht auch dem in § 1 Abs. 3 BORA zum Ausdruck gekommenen Selbstverständnis der Anwaltschaft.
Im Zivilprozess obliegt die Beibringung des Tatsachenstoffs in erster Linie der Partei. Der für sie tätige Anwalt ist über den Tatsachenvortrag hinaus verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, das Gericht davon zu überzeugen, dass und warum seine Rechtsauffassung richtig ist. Daher muss der Rechtsanwalt alles (auch Rechtsausführungen) vorbringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann. Kann die Klage auf verschiedene rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, müssen alle in Betracht kommenden Gründe konkret dargelegt werden. Hat der Anwalt eine ihm übertragene Aufgabe nicht sachgerecht erledigt und auf diese Weise zusätzliche tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hervorgerufen, sind die dadurch ausgelösten Wirkungen ihm grundsätzlich zuzurechnen. Folglich haftet er für die Folgen eines gerichtlichen Fehlers, sofern dieser auf Problemen beruht, die der Anwalt durch eine Pflichtverletzung erst geschaffen hat oder bei vertragsgemäßem Arbeiten hätte vermeiden müssen.
Etwaige Versäumnisse des Gerichts schließen die Mitverantwortung des Rechtsanwalts für eigenes Versehen grundsätzlich nicht aus. Der Verpflichtung, "das Rechtsdickicht zu lichten", ist der Rechtsanwalt folglich nicht wegen der dem Gericht obliegenden Rechtsprüfung ("iura novit curia") enthoben. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des OLG, die den Rechtsanwalt unter Berufung auf den Grundsatz "iura novit curia" von der gebotenen umfassenden Darlegung des Rechtsstandpunkts seiner Partei freistellt, nicht gerecht. Vielmehr hat der Beklagte die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfaltspflicht missachtet, weil er in dem Vorprozess den aus der Interessenlage der von ihm vertretenen Partei streitentscheidenden Gesichtspunkt der Verwirklichung eines vereinbarungswidrigen, unzureichenden Versicherungsschutzes nicht mit der gebotenen Deutlichkeit zum Gegenstand des Rechtsstreits gemacht hat.
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