Konkludente Entscheidung nach § 511 Abs. 4 ZPO bei Schweigen des erstinstanzlichen Gerichts zur Zulassung der Berufung und Streitwert über 600 €
BGH 15.6.2011, II ZB 20/10Die Beklagte ist ein geschlossener Immobilienfonds in der Rechtsform einer Kommanditgesellschaft. Der Kläger ist dem Fonds im Jahre 1993 als Kommanditist beigetreten. Mit seiner Klage hat er - soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren noch von Bedeutung - die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Einsicht in die Liste der Namen und Anschriften der Mitgesellschafter des Fonds sowie der Möglichkeit begehrt, Ablichtungen gegen Erstattung der dadurch anfallenden Aufwendungen der Beklagten zu fertigen.
Der Einzelrichter beim LG gab der Klage statt, setzte den Streitwert auf 6.391 € fest und traf weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen eine Aussage zur Zulassung der Berufung. Das OLG verwarf die gegen das erstinstanzliche Urteil gerichtete Berufung der Beklagten als unzulässig. Zuvor hatte es den Wert des Beschwerdegegenstands für das Berufungsverfahren auf bis zu 600 € festgesetzt und die Beklagte unter Setzung einer Frist zur Stellungnahme darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, die Berufung gem. § 522 Abs. 1 ZPO durch Beschluss wegen Nichterreichens der Berufungssumme nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Beklagten hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist die Beschwerde nicht deshalb nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zulässig, weil das OLG auf der Grundlage seiner Wertbemessung nicht über die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO entschieden hat. Das OLG war entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde zu einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung nicht befugt.
Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ist grundsätzlich dem Gericht des ersten Rechtszugs vorbehalten (§ 511 Abs. 4 S. 1 ZPO). Hat - wie im Streitfall - keine Partei die Zulassung beantragt, ist eine ausdrückliche Entscheidung entbehrlich; das Schweigen im Urteil bedeutet dann Nichtzulassung. Allerdings muss das Berufungsgericht die Entscheidung nachholen, wenn das erstinstanzliche Gericht hierzu keine Veranlassung gesehen hat, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat, aber das Gericht des zweiten Rechtszugs diesen Wert nicht für erreicht hält. Hier kann dem Schweigen des erstinstanzlichen Urteils über die Zulassung des Rechtsmittels nicht entnommen werden, das Gericht habe die Berufung nicht zugelassen, denn es konnte davon ausgehen, diese sei bereits gem. § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO statthaft und somit eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung entbehrlich.
Eine solche Konstellation liegt dem Streitfall jedoch nicht zugrunde. Zwar hat der Einzelrichter am LG den Streitwert auf 6.391 € festgesetzt; allerdings versagt diese Festsetzung als Anknüpfungspunkt für die Annahme, das erstinstanzliche Gericht sei deswegen von einer entsprechenden Beschwer der Beklagten und mithin vom Vorliegen der Voraussetzung des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ausgegangen. Bei der Auskunfts- und Einsichtsklage fallen der Streitwert der Klage und die Beschwer des verurteilten Beklagten in aller Regel auseinander. Der Streitwert richtet sich nach dem Interesse des Klägers an der Erteilung der Auskunft oder der Einsicht. Dieses ist nach einem gem. § 3 ZPO zu schätzenden Teilwert des Anspruchs zu bemessen, dessen Durchsetzung die verlangte Information dienen soll. Demgegenüber richtet sich die Beschwer des zur Erteilung der Auskunft bzw. zur Gestattung der Einsicht verurteilten Beklagten nach hiervon verschiedenen Kriterien.
Dementsprechend kann der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für eine Auskunfts- oder Einsichtsklage nichts zur Bemessung der Beschwer des unterlegenen Beklagten entnommen werden. Damit scheidet auch die Annahme aus, das Gericht des ersten Rechtszugs sei aufgrund der Festsetzung des Streitwerts einer solchen Klage auf mehr als 600 € davon ausgegangen, die Beschwer des zur Auskunft oder Einsichtsgewährung verurteilten Beklagten habe einen entsprechenden Wert, so dass die Voraussetzung des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erfüllt sei und kein Anlass für eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung bestehe.
Im Übrigen spricht auch die Tatsache, dass der Einzelrichter den Rechtsstreit entschieden und ihn nicht nach § 348 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ZPO der Zivilkammer zur Entscheidung über eine Übernahme vorgelegt hat, für eine (konkludente) Entscheidung über die (Nicht-)Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO. Der Einzelrichter beim LG hat als originärer Einzelrichter gem. § 348 ZPO entschieden. Der originäre Einzelrichter muss einen Rechtsstreit u.a. dann der Kammer vorlegen, wenn er der Sache grundsätzliche Bedeutung beimisst, wobei er insoweit über kein Handlungsermessen verfügt. Missachtet der originäre Einzelrichter diese Vorlagepflicht, wird dadurch das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters verletzt.
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