Kontrolle von Kommissions-Entscheidungen zu Kartellen durch EuG verstößt nicht gegen Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes
EuGH 8.12.2011, C-272/09 P u.a.2003 stellte die Kommission das Bestehen eines Kartells im Sektor Kupfer-Industrierohre fest. Gegen Unternehmen der KME-Gruppe (u.a. KME Germany) wurden gesamtschuldnerisch Geldbußen in einer Gesamthöhe von rd. 40 Mio. € verhängt. 2004 stellte die Kommission fest, dass u.a. die KME-Gruppe und das griechische Unternehmen Chalkor an einem Kartell auf dem Markt für Kupfer-Installationsrohre beteiligt waren. Chalkor wurde mit einer Geldbuße von 9,16 € Euro belegt. Die KME-Gruppe wurde zur Zahlung von rd. 67 € Geldbuße verpflichtet. Mit ihren Klagen begehren die Unternehmen Nichtigerklärung der Entscheidungen bzw. Herabsetzung ihrer jeweiligen Geldbußen.
Das EuG wies die Klagen der Unternehmen der KME-Gruppe sowohl hinsichtlich des Kartells im Sektor Industrierohre (C‑272/09 P) als auch im Bereich Installationsrohre (C-389/10 P) zurück. Die Kommission habe die konkreten Auswirkungen des Kartells bei der Berechnung des Ausgangsbetrags der Geldbuße in angemessener Weise berücksichtigt. Sie habe auch die Größe des betroffenen Sektors zutreffend beurteilt und weder bei der Erhöhung des Ausgangsbetrags der Geldbuße aufgrund der Dauer der Zuwiderhandlung noch bei der Nichtberücksichtigung bestimmter mildernder Umstände einen Rechtsfehler begangen.
Die Klage von Chalkor (C-386/10 P), das nur an einem der drei Teile des Kartells beteiligt war, wies das EuG ganz überwiegend ab und senkte lediglich die ursprüngliche Geldbuße von 9,16 Mio. € um 10 Prozent auf 8,25 Mio. € herab. In diesem Fall habe die Kommission nicht die Frage geprüft, ob ein Zuwiderhandelnder, der sich nur an einem Teil des Kartells beteilige, eine minder schwere Zuwiderhandlung begehe als ein Zuwiderhandelnder, der sich im Rahmen desselben Kartells an allen Teilen des Kartells beteilige.
Mit ihren Rechtsmitteln begehren Chalkor und die KME-Gruppe die Aufhebung der Urteile des EuG und die Nichtigerklärung der Entscheidungen der Kommission. Das EuG habe die Entscheidung der Kommission nicht hinreichend geprüft und sich im Übermaß und in vernunftwidriger Weise auf die Wertungen der Kommission verlassen. Die Rechtsmittel hatten vor dem EuGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Das EuG hat vorliegend die umfassende rechtliche und tatsächliche Kontrolle, zu der es verpflichtet ist, ausgeübt.
Die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen, mit denen wettbewerbsrechtliche Zwangsmaßnahmen verhängt werden, umfasst über die Rechtmäßigkeitskontrolle hinaus eine unbeschränkte Nachprüfung. Auch wenn der Kommission in Bereichen, in denen komplexe wirtschaftliche Beurteilungen erforderlich sind, ein Beurteilungsspielraum zusteht, bedeutet dies nicht, dass der Unionsrichter eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission unterlassen muss. Es ist Sache des Unionsrichters, diese Kontrolle auf der Grundlage der vom Kläger vorgelegten Beweise vorzunehmen.
Dabei kann der Unionsrichter weder hinsichtlich der Wahl der Gesichtspunkte, die bei der Anwendung der Kriterien für die Bemessung der Geldbußen berücksichtigt wurden, noch hinsichtlich ihrer Bewertung auf den Ermessensspielraum der Kommission verweisen, um auf eine gründliche rechtliche wie tatsächliche Kontrolle zu verzichten. Die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung betreffend die Höhe der Geldbußen ermächtigt den Richter über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus dazu, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte finanzielle Sanktion aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen.
Die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung bedeutet jedoch nicht, dass der Richter verpflichtet wäre, die gesamte angefochtene Entscheidung von Amts wegen zu prüfen, was eine erneute Prüfung des gesamten Vorgangs erfordern würde. Der Unionsrichter muss eine Kontrolle sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht vornehmen und ist befugt, die Beweise zu würdigen, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären und die Höhe der Geldbußen zu ändern. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die im Unionsrecht vorgesehene richterliche Kontrolle gegen den in der Grundrechtecharta verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verstößt.
Linkhinweis:
- Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung C-272/09 P klicken Sie bitte hier.
- Für den Volltext der Entscheidung C-386/10 P klicken Sie bitte hier.
- Für den Volltext der Entscheidung C-389/10 P klicken Sie bitte hier.