20.12.2013

Lebensversicherung: Zur Unzulässigkeit des Erlöschens des Rücktrittsrechts bei fehlender Belehrung über das Recht zum Rücktritt

Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG zur Lebensversicherung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.

EuGH 19.12.2013, C‑209/12
Der Sachverhalt:
Der Kläger schloss bei der beklagten Allianz Lebensversicherungs AG einen Rentenversicherungsvertrag mit Vertragsbeginn zum 1.12.1998 ab. Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation erhielt er erst mit dem Versicherungsschein. Im Zuge dieses Vertragsschlusses belehrte die Beklagte den Kläger nicht hinreichend über die ihm nach § 5a VVG zustehenden Rechte.

Laut Vertrag sollte der Kläger ab Dezember 1998 über einen Zeitraum von fünf Jahren jährlich eine Versicherungsprämie zahlen. Als Gegenleistung sollte die Beklagte ihm ab dem 1.12.2011 eine Rente zahlen. Am 1.6.2007 kündigte der Kläger gegenüber der Beklagten den Vertrag zum 1.9.2007. Im September 2007 kehrte die Allianz ihm den Rückkaufswert des Rentenversicherungsvertrags aus, der unter dem Gesamtbetrag der Versicherungsprämien zzgl. Zinsen lag. Mit Schreiben vom 31.4.2008 übte der Kläger sein Widerspruchsrecht nach § 5a VVG aus. Er forderte die Allianz auf, ihm sämtliche Prämien nebst Zinsen unter Abzug des bereits ausgekehrten Rückkaufswerts zurückzuzahlen.

Die Instanzgerichte wiesen die Klage ab. Daraufhin legte der Kläger Revision ein. Für den BGH hat die Revision nur Erfolg, wenn der Kläger ungeachtet der Bestimmung des § 5a Abs. 2 S. 4 VVG noch zu einem Widerspruch berechtigt war, nachdem mehr als ein Jahr seit Zahlung der ersten Versicherungsprämie verstrichen war. Insofern komme es darauf an, ob Art. 15 Abs. 1 S. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen ist, dass er einer zeitlichen Beschränkung des Widerspruchsrechts entgegensteht. Der BGH hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 15 Abs. 1 S. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung unter Berücksichtigung des Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen, dass er einer Regelung - wie § 5a Abs. 2 S. 4 VVG in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung - entgegensteht, nach der ein Rücktritts- oder Widerspruchsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, selbst wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt oder Widerspruch belehrt worden ist?

Die Gründe:
Eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach das Recht des Versicherungsnehmers, von dem Vertrag zurückzutreten, zu einem Zeitpunkt erlischt, zu dem er über dieses Recht nicht belehrt war, läuft der Verwirklichung eines grundlegenden Ziels der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und damit deren praktischer Wirksamkeit zuwider.

Der EuGH hat bereits entschieden, dass ein Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben kann, wenn es ihm nicht bekannt ist. Demzufolge kann eine Beschränkung des Zeitraums, in dem das Widerrufsrecht nach der Richtlinie 85/577 zum Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen ausgeübt werden kann, aus Gründen der Rechtssicherheit nicht gerechtfertigt sein, weil dies eine Einschränkung der Rechte impliziert, die dem Verbraucher ausdrücklich verliehen worden sind, um ihn vor den Gefahren zu schützen, die sich daraus ergeben, dass Kreditinstitute bewusst Verträge außerhalb ihrer Geschäftsräume abschließen.

Diese Erwägungen aus dem Urteil vom 13.12.2001 (C‑481/99) lassen sich auf die im Ausgangsverfahren fragliche Bestimmung übertragen. Die Gefahren, die zum einen für den Verbraucher mit dem Abschluss eines Vertrags außerhalb der Geschäftsräume seines Vertragspartners und zum anderen für den Versicherungsnehmer mit dem Abschluss eines Versicherungsvertrags bei Fehlen einer den Anforderungen des Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung i.V.m. deren Anhang II entsprechenden Belehrung verbunden sind, sind nämlich vergleichbar.

Mit ihrem Antrag, die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu begrenzen, falls der EuGH feststellen sollte, dass die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, kann die Beklagte i.Ü. nicht durchdringen. Eine Begrenzung der zeitlichen Wirkungen eines Urteils nach ständiger Rechtsprechung ist eine außergewöhnliche Maßnahme, die voraussetzt, dass eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen besteht, die insbes. mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhängen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen wurden.

Die Beklagte, hat sich jedoch darauf beschränkt, auf eine sehr hohe Zahl von Versicherungsverträgen zu verweisen, die nach dem Policenmodell geschlossen worden sein sollen und aufgrund deren insgesamt ein sehr hoher Betrag gezahlt worden sein soll. Sie hat aber keine Angaben zu der in der vorliegenden Rechtssache allein maßgeblichen Zahl von Versicherungsverträgen gemacht, bei denen der Versicherungsnehmer nicht über sein Rücktrittsrecht belehrt wurde, und sie hat auch nicht das wirtschaftliche Risiko beziffert, das für sie damit verbunden ist, dass die betroffenen Versicherungsnehmer von diesen Verträgen zurücktreten können. Unter diesen Umständen ist nicht erwiesen, dass die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen besteht.

Linkhinweis:

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