03.11.2011

Lesen eines Folgeprospektes bei Anlage eines Dritten begründet nicht zwangsläufig die Kenntnis von Fehlern im eigenen Prospekt

In Prospekthaftungs- und Anlageberatungsfällen liegt eine grob fahrlässige Unkenntnis i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Allgemeinen nicht schon dann vor, wenn sich die für die Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände einer Aufklärungs- oder Beratungspflichtverletzung notwendigen Informationen aus dem Anlageprospekt ergeben, der Anleger aber dessen Lektüre unterlassen hat. Dies gilt selbst dann, wenn der Anleger später im Zusammenhang mit der Anlageentscheidung eines Dritten einen Folgeprospekt gelesen hat.

BGH 27.9.2011, VI ZR 135/10
Der Sachverhalt:
Die Klägerin hatte sich im November 2003 als stille Gesellschafterin mit einer Einlage i.H.v. 15.000 € als (atypisch) stille Gesellschafterin an der E-AG beteiligt. In der Folgezeit wurde diese Gesellschaft Komplementärin der neu gegründeten E-AG & Co. KG, die daraufhin Beteiligungen in Form von Kommanditanteilen anbot und das Anlageangebot der E-AG fortführte. Im Dezember 2004 übernahm die Tante der Klägerin auf deren Empfehlung eine Beteiligung als Kommanditistin der  E-AG & Co. KG i.H.v. 5.000 €. Der Beklagte war Vorstand der E-AG und in dieser Funktion in den Prospekten beider Gesellschaften genannt und abgebildet. Anfang 2007 wurde über das Vermögen beider Gesellschaften das Insolvenzverfahren eröffnet.

Die Klägerin behauptete, die zum Zeitpunkt der Zeichnung vorgelegten Prospekte seien in wesentlichen Punkten, insbesondere hinsichtlich der Planzahlen über die voraussichtlichen Platzierungen, falsch gewesen. Bei der Zeichnung ihrer eigenen Beteiligung sei ihr vom Anlageberater ein Prospekt der E-AG vom Oktober 2001 vorgelegt worden, dessen Planzahlen im Hinblick auf die geringen tatsächlichen Platzierungserfolge völlig unrealistisch gewesen seien. In dem Prospekt der E-AG & Co. KG mit dem Stand 2003/2004 sei eine Korrektur der Planzahlen nicht erfolgt.

Das LG gab der Klage statt; das OLG wies die Klage hinsichtlich der Schadensersatzansprüche der Klägerin aus eigenem Recht wegen Verjährung ab. Da die Klägerin bereits im Jahr 2004 Kenntnis von den falschen Planzahlen entweder erlangt oder zumindest grob fahrlässig nicht erlangt habe, sei ein Anspruch ausgeschlossen. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt und wesentliche Umstände im Vorbringen der Klägerin unberücksichtigt gelassen.

In Prospekthaftungs- und Anlageberatungsfällen liegt eine grob fahrlässige Unkenntnis i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Allgemeinen nicht schon dann vor, wenn sich die für die Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände einer Aufklärungs- oder Beratungspflichtverletzung notwendigen Informationen aus dem Anlageprospekt ergeben, der Anleger aber dessen Lektüre unterlassen hat. Vertraut daher der Anleger auf den Rat und die Angaben "seines" Beraters oder Vermittlers und sieht er deshalb davon ab, den ihm übergebenen Anlageprospekt durchzusehen und auszuwerten, so ist darin im Allgemeinen kein in subjektiver und objektiver Hinsicht "grobes Verschulden gegen sich selbst" zu sehen.

Somit durfte das OLG allein aufgrund der Angabe der Klägerin, sie habe vor Zeichnung der Beteiligung ihrer Tante im Dezember 2004 den Prospekt durchgearbeitet, nicht zu dem Ergebnis gelangen, die Klägerin habe zu diesem Zeitpunkt Kenntnis oder zumindest grob fahrlässige Unkenntnis erlangt, dass der ihr selbst bei der Zeichnung ihrer stillen Beteiligung an der E-AG vorliegende Prospekt (Stand Oktober 2001) unrichtig gewesen sei. Die Klägerin hatte bei ihrer persönlichen Anhörung durch das LG ihre Angaben dahingehend relativiert, dass sie nicht mehr wisse, ob sie die maßgebliche Seite gelesen habe. Darüber hinaus würde der Vorwurf der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis voraussetzen, dass der Klägerin zum damaligen Zeitpunkt die Angaben aus dem Prospekt zu ihrer eigenen Beteiligung, den sie immerhin bereits fast ein Jahr vorher gelesen hatte, noch präsent waren. Hierzu hat das Berufungsgericht allerdings nichts festgestellt.

Im Übrigen dient ein Prospekt vorrangig der Information des Anlageinteressenten im Zusammenhang mit der eigenen Anlageentscheidung. Dieser Zweck ist mit dem unwiderruflich gewordenen Erwerb der Anlage erfüllt. Demgegenüber ist es nicht die eigentliche Funktion des Prospekts, die Richtigkeit der im Rahmen eines mündlichen Beratungs- oder Vermittlungsgesprächs gemachten Angaben lange Zeit nach der eigenen Anlageentscheidung - hier fast ein Jahr später im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Beteiligung an einem Folgeprojekt durch eine andere Person - kontrollieren zu können.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BGH veröffentlicht.
  • Um direkt zum Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.
BGH online
Zurück