04.07.2024

Lkw-Kartell: Schadensersatzklage am Sitz der Muttergesellschaft der Käufer?

Der EuGH hat vorliegend zur gerichtlichen Zuständigkeit für Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit dem Lkw-Kartell Stellung bezogen: Die Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Art. 7 Nr. 2 der Brüssel Ia-Verordnung umfasst nicht den Sitz der Muttergesellschaft, wenn diese eine Klage auf Ersatz von Schäden erhebt, die ausschließlich ihren Tochtergesellschaften durch das wettbewerbswidrige Verhalten eines Dritten, das eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellt, entstanden sind. Dies gilt auch dann, wenn geltend gemacht wird, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit angehörten.

EuGH v. 4.7.2024 - C-425/22 MOL
Der Sachverhalt:
Das in Ungarn ansässige Unternehmen MOL hält Kontrollbeteiligungen an mehreren, in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften. Mit Beschluss vom 19.7.2016 stellte die EU-Kommission fest, dass die Mercedes-Benz Group und 15 internationale Hersteller von Lkw an einem Kartell beteiligt gewesen seien. Dieses Kartell zur Abstimmung der Preise auf der Ebene der Bruttolistenpreise für mittlere und schwere Lkw habe eine fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen das Verbot von Kartellen und anderen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen (gem. Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens) dargestellt. Die Zuwiderhandlung habe vom 17.1.1997 bis zum 18.1.2011 gedauert und sich auf den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum erstreckt.

Während dieses Zeitraums kauften oder leasten die Tochtergesellschaften von MOL mittelbar insgesamt 71 Lkw von der Mercedes-Benz Group. MOL erhob vor einem ungarischen Gericht eine Schadensersatzklage gegen die Mercedes-Benz Group mit der Begründung, dass ihr ein Schaden in Höhe des Preisaufschlags entstanden sei, den ihre Tochtergesellschaften aufgrund des von der Kommission geahndeten wettbewerbswidrigen Verhaltens zu Unrecht gezahlt hätten. MOL stützt sich auf den Begriff "wirtschaftliche Einheit". Sie leitete die internationale Zuständigkeit der ungarischen Gerichte aus dem Deliktsgerichtsstand nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (sog. Brüssel Ia-Verordnung) her, da das "schädigende Ereignis" an ihrem Sitz als dem Mittelpunkt der wirtschaftlichen und finanziellen Interessen der aus ihr und ihren Tochtergesellschaften bestehenden Unternehmensgruppe eingetreten sei. Die Mercedes-Benz Group erhob eine Einrede der Unzuständigkeit und bestritt, dass das von MOL angerufene ungarische Gericht nach der Brüssel-Ia-Verordnung zuständig sei.

Das mit der Sache befasste ungarische Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH hierzu vorab um Auslegung der Brüssel-Ia-Verordnung ersucht.

Die Gründe:
Art. 7 Nr. 2 der Brüssel Ia-Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Wendung "Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist" nicht den Sitz der Muttergesellschaft umfasst, wenn diese eine Klage auf Ersatz von Schäden erhebt, die ausschließlich ihren Tochtergesellschaften durch das wettbewerbswidrige Verhalten eines Dritten, das eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellt, entstanden sind; dies gilt auch dann, wenn geltend gemacht wird, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit angehörten.

Im vorliegenden Fall haben nur die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften unmittelbar den von MOL geltend gemachten Schaden erlitten, nämlich die Mehrkosten wegen künstlich überhöhter Preise für den Kauf oder Leasing der 71 in Rede stehenden Lkw im Anschluss an Absprachen, die den Tatbestand einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV erfüllen. Daher ist festzustellen, dass als Gericht des Ortes, an dem sich der in Rede stehende Schadenserfolg verwirklicht hat, entweder das Gericht international und örtlich zuständig ist, in dessen Bezirk die mutmaßlich geschädigte Tochtergesellschaft die von den Absprachen betroffenen Gegenstände gekauft oder geleast hat, oder - im Fall des Kaufs oder Leasings durch die Tochtergesellschaft an mehreren Orten - das Gericht, in dessen Bezirk sich ihr Sitz befindet.

Die Ziele der Nähe und Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften sowie der Kohärenz von Gerichtsstand und anzuwendendem Recht und der Umstand, dass die Möglichkeit, den Ersatz des durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht, die ein Mitglied der wirtschaftlichen Einheit betreffe, entstandenen Schadens zu verlangen, nicht beeinträchtigt wird, stehen der umgekehrten Anwendung des Begriffs "wirtschaftliche Einheit" zur Bestimmung des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Nr. 2 der Brüssel Ia-Verordnung entgegen.

Mehr zum Thema:

Aufsatz
Zur (Un-)Möglichkeit einer ökonomischen Verteidigung gegen das "Ob" eines Kartellschadens nach Lkw III
Philipp Schliffke, WUW 2024, 255
WUW1459375

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