Meinungsfreiheit / Diskriminierungsverbot u.a. - Russland: Homophobie und Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung
EGMR v. 3.12.2024 - 226/18 u.a.
Die Sachverhalte:
Die Beschwerdeführer in der Rs. 226/18 u.a., 22327/22 sind vier in Russland lebende russische Staatsangehörige, die als LGBTI-Aktivisten (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle) wirken. Ihre Beschwerden betreffen Vorwürfe, dass Russland nicht angemessen auf homophobe Äußerungen reagiere: Drei der Beschwerdeführer (Rs. 226/18 u.a.) hatten 2015 eine Reihe erfolgloser Straf-, Ordnungswidrigkeits- und Zivilklagen gegen einen bekannten Politiker eingelegt, der sie bei einer Kundgebung in St. Petersburg, an der sie teilgenommen hatten, beleidigt und bedroht haben soll. Er habe sie insbesondere als "Perverse", "Drecksäcke", "Aids-Ratten" und "Pädophile" bezeichnet und soll zudem gesagt haben, dass sie "liquidiert" und "mit Panzern und Traktoren zermalmt" werden sollten. Der vierte Beschwerdeführer (Rs. 22327/22) hatte 2020 erfolglos Klage wegen eines Videos erhoben, das einen Vater und seinen Sohn bei der Jagd auf Schwule in einem Wald zeigte und von einem bekannten Comedian und Fernsehmoderator auf Instagram veröffentlicht worden war. Die "Schwulenjagd", die im Jahr 2035 spielt, war eine Parodie auf ein anderes Video, das kurz vor einem nationalen Referendum über Änderungen der russischen Verfassung veröffentlicht wurde und in dem die Öffentlichkeit insbesondere dazu aufgerufen wurde, für eine Änderung zu stimmen, die die Ehe als eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau definiert.
Die Beschwerden in der Rs. 8825/18 u.a. wurde von drei homosexuellen russischen Staatsangehörigen erhoben, die in gleichgeschlechtlichen Ehen, die außerhalb Russlands eingetragen sind, leben. Die ersten beiden Beschwerdeführer sind ein Paar und leben in Moskau. Der dritte Beschwerdeführer und sein Ehemann verließen Russland im Jahr 2022 und leben derzeit als Flüchtlinge in einem anderen europäischen Land. Der Fall betrifft die Offenlegung der personenbezogenen Daten der Beschwerdeführer, einschließlich Informationen über ihre sexuelle Orientierung, durch Private in sozialen Netzwerken und das behauptete Versäumnis der nationalen Behörden, angemessen auf diese vorgeblich von Homophobie motivierten Vorfälle zu reagieren.
Der Rs. 33421/16 u.a. lagen die Beschwerden von sechs Beschwerdeführern zugrunde. Sie sind Eigentümer, Betreiber oder Administratoren von Webseiten oder Gruppen in sozialen Netzwerken, deren Ziel es ist, Toleranz mit und Akzeptanz der LGBTI-Gemeinschaft zu fördern, jugendliche LGBTI-Personen zu unterstützen, Informationen zu und Diskussionsforen über LGBTI-Themen anzubieten sowie Freundschaften und Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft zu begründen. Da ihre Tätigkeiten angeblich für Kinder schädlich seien, wurden die Beschwerdeführer aufgrund von zwischen 2003 und 2013 in Russland eingeführter Gesetzgebung ordnungsrechtlich verurteilt und der Zugang zu ihren Online-Angeboten blockiert. Eine der Beschwerdeführerinnen beschwert sich darüber hinaus, dass die Sicherheitsdienste Nutzerdaten von ihr und ihren LGBTI-Kontakten innerhalb ihres einschlägigen Angebots in einem sozialen Netzwerk gesammelt hatten.
Die Gründe:
Die Beschwerde in der Rs. 22327/22 wurde vom Gerichtshof als unzulässig zurückgewiesen: Das beschwerdegegenständliche Video müsse als politische Satire zu einem Thema von öffentlichem Interesse betrachtet werden, das nicht die Schwelle der Schwere erreicht habe, die erforderlich ist, um das Privatleben einzelner Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Der Beschwerdeführer könne daher nicht als Opfer der behaupteten Verstöße gegen Art. 8 und 14 EMRK angesehen werden.
In allen anderen Fällen stellte der EGMR Verletzungen der EMRK fest:
In der Rs. 226/18 u.a. seien die innerstaatlichen Behörden ihrer positiven Verpflichtung nicht nachgekommen, angemessen auf die verbalen Angriffe und physischen Drohungen, die durch Homophobie motiviert gewesen seien und sich gegen die Beschwerdeführer richteten, zu reagieren. Wenn solche Vorfälle nicht angegangen werden, könne dies dazu führen, dass die Feindseligkeit gegenüber LGBTI-Personen normalisiert wird, eine Kultur der Intoleranz und Diskriminierung fortbesteht und weitere Handlungen vergleichbarer Art gefördert werden.
Mit Blick auf die Rs. 8825/18 u.a. kam der EGMR zu dem Schluss, dass die Behörden ihrer positiven Verpflichtung nicht nachgekommen seien, angemessen auf die nicht einvernehmliche Verbreitung der privaten Daten der Beschwerdeführer, einschließlich der Informationen über ihre sexuelle Orientierung, durch Privatpersonen zu reagieren und wirksam zu ermitteln, ob die Verbreitung der betreffenden Daten homophob motiviert war. Die Behörden hätten die Verletzlichkeit der LGBTI-Gemeinschaft in Russland und deren besonderen Schutzbedarf missachtet, weshalb davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführer aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert wurden.
Betreffend die Rs. 33421/16 u.a. hielt der Gerichtshof mit Blick auf Art. 10 EMRK fest, dass die Maßnahmen gegen die Beschwerdeführer und gegen ihre Websites und Angebote in sozialen Netzwerken darauf abzielten, den Zugang von Kindern zu Informationen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen als im Wesentlichen gleichwertig mit Beziehungen zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts darstellen, einzuschränken und solche Informationen als schädlich zu kennzeichnen. Diese Maßnahmen seien mit Art. 10 EMRK unvereinbar. Die Verurteilung der Beschwerdeführer für Inhalte, die von Nutzern ohne vorherige Moderation der Inhalte in von den Beschwerdeführern erstellten und verwalteten Gruppen oder Gemeinschaften in sozialen Netzwerken gepostet wurden, habe wiederum auf einer weitreichenden und unvorhersehbaren Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts beruht und könne daher nicht als "gesetzlich vorgesehen" im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK angesehen werden.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK befand der EGMR, dass die Sammlung von personenbezogenen Daten der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihrem persönlichen Konto auf einem sozialen Netzwerk und der von ihr dort verwalteten Gemeinschaft durch die Sicherheitsdienste im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens wegen Förderung von Homosexualität unter Minderjährigen auf Rechtsvorschriften beruhte, die keine hinreichenden Garantien gegen Missbrauch boten und überdies nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig waren.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung des Art. 14 i.V.m. 8 (Rs. 226/18, 236/18 und 2027/18 sowie Rs. 8825/18 u.a.) sowie von Art. 8 und 10 EMRK (Rs. 33421/16 u.a.). Die Beschwerde in der Rs. 22327/22 wurde als unzulässig zurückgewiesen.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Die Beschwerdeführer in der Rs. 226/18 u.a., 22327/22 sind vier in Russland lebende russische Staatsangehörige, die als LGBTI-Aktivisten (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle) wirken. Ihre Beschwerden betreffen Vorwürfe, dass Russland nicht angemessen auf homophobe Äußerungen reagiere: Drei der Beschwerdeführer (Rs. 226/18 u.a.) hatten 2015 eine Reihe erfolgloser Straf-, Ordnungswidrigkeits- und Zivilklagen gegen einen bekannten Politiker eingelegt, der sie bei einer Kundgebung in St. Petersburg, an der sie teilgenommen hatten, beleidigt und bedroht haben soll. Er habe sie insbesondere als "Perverse", "Drecksäcke", "Aids-Ratten" und "Pädophile" bezeichnet und soll zudem gesagt haben, dass sie "liquidiert" und "mit Panzern und Traktoren zermalmt" werden sollten. Der vierte Beschwerdeführer (Rs. 22327/22) hatte 2020 erfolglos Klage wegen eines Videos erhoben, das einen Vater und seinen Sohn bei der Jagd auf Schwule in einem Wald zeigte und von einem bekannten Comedian und Fernsehmoderator auf Instagram veröffentlicht worden war. Die "Schwulenjagd", die im Jahr 2035 spielt, war eine Parodie auf ein anderes Video, das kurz vor einem nationalen Referendum über Änderungen der russischen Verfassung veröffentlicht wurde und in dem die Öffentlichkeit insbesondere dazu aufgerufen wurde, für eine Änderung zu stimmen, die die Ehe als eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau definiert.
Die Beschwerden in der Rs. 8825/18 u.a. wurde von drei homosexuellen russischen Staatsangehörigen erhoben, die in gleichgeschlechtlichen Ehen, die außerhalb Russlands eingetragen sind, leben. Die ersten beiden Beschwerdeführer sind ein Paar und leben in Moskau. Der dritte Beschwerdeführer und sein Ehemann verließen Russland im Jahr 2022 und leben derzeit als Flüchtlinge in einem anderen europäischen Land. Der Fall betrifft die Offenlegung der personenbezogenen Daten der Beschwerdeführer, einschließlich Informationen über ihre sexuelle Orientierung, durch Private in sozialen Netzwerken und das behauptete Versäumnis der nationalen Behörden, angemessen auf diese vorgeblich von Homophobie motivierten Vorfälle zu reagieren.
Der Rs. 33421/16 u.a. lagen die Beschwerden von sechs Beschwerdeführern zugrunde. Sie sind Eigentümer, Betreiber oder Administratoren von Webseiten oder Gruppen in sozialen Netzwerken, deren Ziel es ist, Toleranz mit und Akzeptanz der LGBTI-Gemeinschaft zu fördern, jugendliche LGBTI-Personen zu unterstützen, Informationen zu und Diskussionsforen über LGBTI-Themen anzubieten sowie Freundschaften und Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft zu begründen. Da ihre Tätigkeiten angeblich für Kinder schädlich seien, wurden die Beschwerdeführer aufgrund von zwischen 2003 und 2013 in Russland eingeführter Gesetzgebung ordnungsrechtlich verurteilt und der Zugang zu ihren Online-Angeboten blockiert. Eine der Beschwerdeführerinnen beschwert sich darüber hinaus, dass die Sicherheitsdienste Nutzerdaten von ihr und ihren LGBTI-Kontakten innerhalb ihres einschlägigen Angebots in einem sozialen Netzwerk gesammelt hatten.
Die Gründe:
Die Beschwerde in der Rs. 22327/22 wurde vom Gerichtshof als unzulässig zurückgewiesen: Das beschwerdegegenständliche Video müsse als politische Satire zu einem Thema von öffentlichem Interesse betrachtet werden, das nicht die Schwelle der Schwere erreicht habe, die erforderlich ist, um das Privatleben einzelner Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Der Beschwerdeführer könne daher nicht als Opfer der behaupteten Verstöße gegen Art. 8 und 14 EMRK angesehen werden.
In allen anderen Fällen stellte der EGMR Verletzungen der EMRK fest:
In der Rs. 226/18 u.a. seien die innerstaatlichen Behörden ihrer positiven Verpflichtung nicht nachgekommen, angemessen auf die verbalen Angriffe und physischen Drohungen, die durch Homophobie motiviert gewesen seien und sich gegen die Beschwerdeführer richteten, zu reagieren. Wenn solche Vorfälle nicht angegangen werden, könne dies dazu führen, dass die Feindseligkeit gegenüber LGBTI-Personen normalisiert wird, eine Kultur der Intoleranz und Diskriminierung fortbesteht und weitere Handlungen vergleichbarer Art gefördert werden.
Mit Blick auf die Rs. 8825/18 u.a. kam der EGMR zu dem Schluss, dass die Behörden ihrer positiven Verpflichtung nicht nachgekommen seien, angemessen auf die nicht einvernehmliche Verbreitung der privaten Daten der Beschwerdeführer, einschließlich der Informationen über ihre sexuelle Orientierung, durch Privatpersonen zu reagieren und wirksam zu ermitteln, ob die Verbreitung der betreffenden Daten homophob motiviert war. Die Behörden hätten die Verletzlichkeit der LGBTI-Gemeinschaft in Russland und deren besonderen Schutzbedarf missachtet, weshalb davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführer aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert wurden.
Betreffend die Rs. 33421/16 u.a. hielt der Gerichtshof mit Blick auf Art. 10 EMRK fest, dass die Maßnahmen gegen die Beschwerdeführer und gegen ihre Websites und Angebote in sozialen Netzwerken darauf abzielten, den Zugang von Kindern zu Informationen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen als im Wesentlichen gleichwertig mit Beziehungen zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts darstellen, einzuschränken und solche Informationen als schädlich zu kennzeichnen. Diese Maßnahmen seien mit Art. 10 EMRK unvereinbar. Die Verurteilung der Beschwerdeführer für Inhalte, die von Nutzern ohne vorherige Moderation der Inhalte in von den Beschwerdeführern erstellten und verwalteten Gruppen oder Gemeinschaften in sozialen Netzwerken gepostet wurden, habe wiederum auf einer weitreichenden und unvorhersehbaren Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts beruht und könne daher nicht als "gesetzlich vorgesehen" im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK angesehen werden.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK befand der EGMR, dass die Sammlung von personenbezogenen Daten der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihrem persönlichen Konto auf einem sozialen Netzwerk und der von ihr dort verwalteten Gemeinschaft durch die Sicherheitsdienste im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens wegen Förderung von Homosexualität unter Minderjährigen auf Rechtsvorschriften beruhte, die keine hinreichenden Garantien gegen Missbrauch boten und überdies nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig waren.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung des Art. 14 i.V.m. 8 (Rs. 226/18, 236/18 und 2027/18 sowie Rs. 8825/18 u.a.) sowie von Art. 8 und 10 EMRK (Rs. 33421/16 u.a.). Die Beschwerde in der Rs. 22327/22 wurde als unzulässig zurückgewiesen.