Meinungsfreiheit - Frankreich: Zivilrechtliche Verurteilung eines Gemeinderatsmitglieds wegen öffentlicher Verleumdung einer Aktiengesellschaft durch Äußerungen auf der Pinnwand seines Facebook-Kontos
EGMR v. 29.8.2024 - 4110/20
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt Gemeinderat der französischen Gemeinde Noisy-le-Sec und Vorsitzender einer Oppositionsgruppe in diesem. Er kontaktierte Ende 2014 die Staatsanwaltschaft, um auf Missstände im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen durch die gemischt öffentlich-privatrechtliche Aktiengesellschaft SAEM aufmerksam zu machen. Diese ist für die Verwaltung von 30% des Sozialwohnungsbestands der Gemeinde verantwortlich. Die Gemeinde hält mehr als zwei Drittel des Kapitals der SAEM, in der acht von zwölf Vorstandsmitgliedern Gemeinderatsmitglieder sind und der Bürgermeister von Rechts wegen den Vorsitz hält. Daneben wandte sich der Beschwerdeführer an die staatliche Kommission für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten, nachdem der Bürgermeister in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SAEM sich geweigert hatte, Dokumente bezüglich eines öffentlichen Auftrags an die Firma L. herauszugeben. In einem sich anschließenden Strafverfahren wurde der Vorsitzende der SAEM und andere Angeklagte im Jahr 2021 freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Berufung ein; das Verfahren war zum Zeitpunkt des Urteils des EGMR noch anhängig.
Im Jahr 2016 wurde ein anderer Gemeinderat der Stadt angeschossen. Er gab an, dass die festgenommenen Tatverdächtigen mit dem Bürgermeister, den sie während seiner Wahlkampagne 2014 unterstützt hätten, bevor sie über ihre Firma L. einen von der SAEM ausgeschriebenen öffentlichen Auftrag erhalten hätten, in Beziehung stünden. In diesem Zusammenhang veröffentlichte der Beschwerdeführer einen Kommentar auf der Pinnwand seines Facebook-Kontos, in dem er unter Verwendung des Hashtags #NoisyleSec und unter Bezugnahme auf "einen bestimmten "sozialen" Vermieter" "mafiöse Auswüchse" kritisierte, die "seit fünfeinhalb Jahren zum Alltag in unserer armen Stadt gehören". Die SAEM fühlte sich von diesem Kommentar angesprochen und verklagte den Beschwerdeführer straf- und zivilrechtlich wegen Verleumdung. Nachdem dieser erstinstanzlich freigesprochen worden war, wurde er im zivilrechtlich ausgerichteten Rechtsmittelverfahren zur Zahlung von 1 Euro Schadenersatz für immaterielle Schäden und von 1.500 Euro Verfahrenskosten verurteilt. Das Rechtsmittelgericht ordnete daneben die Löschung des strittigen Kommentars und die Veröffentlichung einer auf das Urteil verweisenden Mitteilung auf Facebook an. Eine gegen das Rechtsmittelurteil gerichtete Kassationsbeschwerde blieb erfolglos; vielmehr wurde der Beschwerdeführer vom Kassationsgericht verurteilt, 2.500 Euro an die SAEM als Verfahrenskosten zu zahlen.
Die Gründe:
Der EGMR befand, dass die zivilrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen öffentlicher Verleumdung einen Eingriff in die Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung dargestellt habe. Dieser sei auch gesetzlich vorgesehen gewesen. Zwar sei die Frage, ob eine juristische Person das Recht auf guten Ruf genießen kann, einschließlich des Umfangs dieses Rechts, umstritten. Unter den Umständen des vorliegenden Falles könne dieses legitime Ziel jedoch geltend gemacht werden.
Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung erinnerte der Gerichtshof an die Kriterien zur Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs in Fällen behaupteter Verleumdung, nämlich die Positionen und Eigenschaften der involvierten Personen auf beiden Seiten, den Rahmen der Äußerungen, ihre Natur und faktische Grundlage sowie die Art der verhängten Strafe. Daneben betonte der EGMR erneut, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK kaum Raum für Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Bereich der politischen Rede lasse: In einer demokratischen Gesellschaft sei es von grundlegender Bedeutung, das freie Spiel der politischen Debatte zu verteidigen; der Meinungsfreiheit komme im Zusammenhang mit der politischen Debatte höchste Bedeutung zu. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei für einen gewählten Volksvertreter - zudem bei einem Mitglied der Opposition - von besonderem Wert und der Ermessensspielraum der Behörden bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer strittigen Maßnahme in diesem Kontext daher besonders begrenzt.
Dennoch lehnte der Gerichtshof vorliegend eine Verletzung der Meinungsfreiheit ab. Zwar handele es sich bei dem Beschwerdeführer zweifellos um eine politische Persönlichkeit, die sich in ihrer Eigenschaft als gewählter Abgeordneter und im Rahmen ihres politischen und "militanten" Engagements geäußert habe. In dieser Funktion habe er eine Wächterfunktion innegehabt und die Bevölkerung für Fragen, die in die Zuständigkeit des Gemeinderats fielen, insbesondere im spezifischen Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, sensibilisiert. Dennoch habe ein Politiker wie der Beschwerdeführer Pflichten und Verantwortung, und zwar in höherem Maße als eine Privatperson in vergleichbarer Situation, abgesehen von der Tatsache, dass ein hoher Bekanntheitsgrad und Repräsentativität den Worten oder Handlungen ihres Urhebers - der aufgrund seines besonderen Status und seiner Stellung in der Gesellschaft tatsächlich eher in der Lage sei, die Wähler zu beeinflussen und sie sogar direkt oder indirekt dazu zu bringen, Positionen und Verhaltensweisen einzunehmen, die sich als rechtswidrig erweisen könnten - mehr Resonanz und Autorität verliehen.
Der Schutz des Rufs einer juristischen Person habe nicht die gleiche Bedeutung wie der Schutz des Rufs oder der Rechte von Einzelpersonen. Die SAEM habe einen größeren Grad an Toleranz gegenüber der auch harschen Kritik eines gewählten Vertreters zeigen müssen. Wenn, wie im vorliegenden Fall, die Debatte ein emotionales Thema betrifft (was zweifellos der Fall sei, wenn es um den Angriff auf ein Mitglied der kommunalen Opposition mit Schusswaffen geht) sei zudem eine besondere Toleranz gegenüber Kritik und den gegebenenfalls damit einhergehenden verbalen oder schriftlichen Entgleisungen zu zeigen.
Die hier streitgegenständlichen Äußerungen fielen zumindest teilweise in den Bereich einer Debatte von allgemeinem Interesse, über die der Beschwerdeführer das Recht gehabt habe, die Öffentlichkeit zu informieren. Obwohl die Veröffentlichung auf der Pinnwand des Facebook-Kontos des Beschwerdeführers erfolgte, habe er dennoch in seiner Eigenschaft als gewählter Vertreter gehandelt, der ein technisches Mittel nutzte, das ihm in diesem sozialen Netzwerk zur Verfügung gestellt worden sei, was es ihm ermöglicht habe, mit den Wählern zu kommunizieren und dies insbesondere in Bezug auf die Probleme, die diese in ihrer Gemeinde haben. Unter diesen Umständen könne ein Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nur aus zwingenden Gründen gerechtfertigt werden.
Dies sei vorliegend der Fall. Der Beschwerdeführer habe in seinem Kommentar eine direkte Verbindung zwischen der SAEM - die leicht zu identifizieren gewesen sei - und dem Schusswaffenangriff hergestellt. Bei diesen Anschuldigungen gegen die SAEM handele es sich um eine Tatsachenbehauptung, die nicht auf einer ausreichenden faktischen Grundlage beruht habe. Auch habe der Beschwerdeführer nicht beweisen können, dass er zum Zeitpunkt seiner Äußerungen über Fakten verfügte, die es ihm erlaubt hätten, SAEM eine Verwicklung in eine Schießerei zuzuschreiben. Daher könne der EGMR die Äußerungen des Beschwerdeführers nicht als Ausdruck des Maßes an Übertreibung oder Provokation ansehen, das im Rahmen der politischen Meinungsfreiheit zulässig sei.
Zuletzt sei auch die verhängte Strafe nicht unverhältnismäßig gewesen.
Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Der Beschwerdeführer war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt Gemeinderat der französischen Gemeinde Noisy-le-Sec und Vorsitzender einer Oppositionsgruppe in diesem. Er kontaktierte Ende 2014 die Staatsanwaltschaft, um auf Missstände im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen durch die gemischt öffentlich-privatrechtliche Aktiengesellschaft SAEM aufmerksam zu machen. Diese ist für die Verwaltung von 30% des Sozialwohnungsbestands der Gemeinde verantwortlich. Die Gemeinde hält mehr als zwei Drittel des Kapitals der SAEM, in der acht von zwölf Vorstandsmitgliedern Gemeinderatsmitglieder sind und der Bürgermeister von Rechts wegen den Vorsitz hält. Daneben wandte sich der Beschwerdeführer an die staatliche Kommission für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten, nachdem der Bürgermeister in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SAEM sich geweigert hatte, Dokumente bezüglich eines öffentlichen Auftrags an die Firma L. herauszugeben. In einem sich anschließenden Strafverfahren wurde der Vorsitzende der SAEM und andere Angeklagte im Jahr 2021 freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Berufung ein; das Verfahren war zum Zeitpunkt des Urteils des EGMR noch anhängig.
Im Jahr 2016 wurde ein anderer Gemeinderat der Stadt angeschossen. Er gab an, dass die festgenommenen Tatverdächtigen mit dem Bürgermeister, den sie während seiner Wahlkampagne 2014 unterstützt hätten, bevor sie über ihre Firma L. einen von der SAEM ausgeschriebenen öffentlichen Auftrag erhalten hätten, in Beziehung stünden. In diesem Zusammenhang veröffentlichte der Beschwerdeführer einen Kommentar auf der Pinnwand seines Facebook-Kontos, in dem er unter Verwendung des Hashtags #NoisyleSec und unter Bezugnahme auf "einen bestimmten "sozialen" Vermieter" "mafiöse Auswüchse" kritisierte, die "seit fünfeinhalb Jahren zum Alltag in unserer armen Stadt gehören". Die SAEM fühlte sich von diesem Kommentar angesprochen und verklagte den Beschwerdeführer straf- und zivilrechtlich wegen Verleumdung. Nachdem dieser erstinstanzlich freigesprochen worden war, wurde er im zivilrechtlich ausgerichteten Rechtsmittelverfahren zur Zahlung von 1 Euro Schadenersatz für immaterielle Schäden und von 1.500 Euro Verfahrenskosten verurteilt. Das Rechtsmittelgericht ordnete daneben die Löschung des strittigen Kommentars und die Veröffentlichung einer auf das Urteil verweisenden Mitteilung auf Facebook an. Eine gegen das Rechtsmittelurteil gerichtete Kassationsbeschwerde blieb erfolglos; vielmehr wurde der Beschwerdeführer vom Kassationsgericht verurteilt, 2.500 Euro an die SAEM als Verfahrenskosten zu zahlen.
Die Gründe:
Der EGMR befand, dass die zivilrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen öffentlicher Verleumdung einen Eingriff in die Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung dargestellt habe. Dieser sei auch gesetzlich vorgesehen gewesen. Zwar sei die Frage, ob eine juristische Person das Recht auf guten Ruf genießen kann, einschließlich des Umfangs dieses Rechts, umstritten. Unter den Umständen des vorliegenden Falles könne dieses legitime Ziel jedoch geltend gemacht werden.
Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung erinnerte der Gerichtshof an die Kriterien zur Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs in Fällen behaupteter Verleumdung, nämlich die Positionen und Eigenschaften der involvierten Personen auf beiden Seiten, den Rahmen der Äußerungen, ihre Natur und faktische Grundlage sowie die Art der verhängten Strafe. Daneben betonte der EGMR erneut, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK kaum Raum für Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Bereich der politischen Rede lasse: In einer demokratischen Gesellschaft sei es von grundlegender Bedeutung, das freie Spiel der politischen Debatte zu verteidigen; der Meinungsfreiheit komme im Zusammenhang mit der politischen Debatte höchste Bedeutung zu. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei für einen gewählten Volksvertreter - zudem bei einem Mitglied der Opposition - von besonderem Wert und der Ermessensspielraum der Behörden bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer strittigen Maßnahme in diesem Kontext daher besonders begrenzt.
Dennoch lehnte der Gerichtshof vorliegend eine Verletzung der Meinungsfreiheit ab. Zwar handele es sich bei dem Beschwerdeführer zweifellos um eine politische Persönlichkeit, die sich in ihrer Eigenschaft als gewählter Abgeordneter und im Rahmen ihres politischen und "militanten" Engagements geäußert habe. In dieser Funktion habe er eine Wächterfunktion innegehabt und die Bevölkerung für Fragen, die in die Zuständigkeit des Gemeinderats fielen, insbesondere im spezifischen Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, sensibilisiert. Dennoch habe ein Politiker wie der Beschwerdeführer Pflichten und Verantwortung, und zwar in höherem Maße als eine Privatperson in vergleichbarer Situation, abgesehen von der Tatsache, dass ein hoher Bekanntheitsgrad und Repräsentativität den Worten oder Handlungen ihres Urhebers - der aufgrund seines besonderen Status und seiner Stellung in der Gesellschaft tatsächlich eher in der Lage sei, die Wähler zu beeinflussen und sie sogar direkt oder indirekt dazu zu bringen, Positionen und Verhaltensweisen einzunehmen, die sich als rechtswidrig erweisen könnten - mehr Resonanz und Autorität verliehen.
Der Schutz des Rufs einer juristischen Person habe nicht die gleiche Bedeutung wie der Schutz des Rufs oder der Rechte von Einzelpersonen. Die SAEM habe einen größeren Grad an Toleranz gegenüber der auch harschen Kritik eines gewählten Vertreters zeigen müssen. Wenn, wie im vorliegenden Fall, die Debatte ein emotionales Thema betrifft (was zweifellos der Fall sei, wenn es um den Angriff auf ein Mitglied der kommunalen Opposition mit Schusswaffen geht) sei zudem eine besondere Toleranz gegenüber Kritik und den gegebenenfalls damit einhergehenden verbalen oder schriftlichen Entgleisungen zu zeigen.
Die hier streitgegenständlichen Äußerungen fielen zumindest teilweise in den Bereich einer Debatte von allgemeinem Interesse, über die der Beschwerdeführer das Recht gehabt habe, die Öffentlichkeit zu informieren. Obwohl die Veröffentlichung auf der Pinnwand des Facebook-Kontos des Beschwerdeführers erfolgte, habe er dennoch in seiner Eigenschaft als gewählter Vertreter gehandelt, der ein technisches Mittel nutzte, das ihm in diesem sozialen Netzwerk zur Verfügung gestellt worden sei, was es ihm ermöglicht habe, mit den Wählern zu kommunizieren und dies insbesondere in Bezug auf die Probleme, die diese in ihrer Gemeinde haben. Unter diesen Umständen könne ein Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nur aus zwingenden Gründen gerechtfertigt werden.
Dies sei vorliegend der Fall. Der Beschwerdeführer habe in seinem Kommentar eine direkte Verbindung zwischen der SAEM - die leicht zu identifizieren gewesen sei - und dem Schusswaffenangriff hergestellt. Bei diesen Anschuldigungen gegen die SAEM handele es sich um eine Tatsachenbehauptung, die nicht auf einer ausreichenden faktischen Grundlage beruht habe. Auch habe der Beschwerdeführer nicht beweisen können, dass er zum Zeitpunkt seiner Äußerungen über Fakten verfügte, die es ihm erlaubt hätten, SAEM eine Verwicklung in eine Schießerei zuzuschreiben. Daher könne der EGMR die Äußerungen des Beschwerdeführers nicht als Ausdruck des Maßes an Übertreibung oder Provokation ansehen, das im Rahmen der politischen Meinungsfreiheit zulässig sei.
Zuletzt sei auch die verhängte Strafe nicht unverhältnismäßig gewesen.
Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.