Meinungsfreiheit - Polen: Entlassung eines Lehrers wegen des Schreibens eines Internet-Blogs für Erwachsene mit sexuell eindeutigen Inhalten
EGMR v. 13.2.2025 - 56310/15
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer, ein Polnisch- und Englischlehrer, arbeitete von 2007 bis 2013 als (Klassen-)Lehrer an einer weiterführenden Schule mit Schülern im Alter von 15 bis 18 Jahren. Fünf Jahre in Folge war ihm von der Schulleiterin ein Preis für den besten Lehrer verliehen worden; 2010 und 2013 gewann er zudem nationale Wettbewerbe für den besten Klassenlehrer. Der Beschwerdeführer wurde nie gerügt, und es wurden keine Beschwerden über ihn eingereicht.
Von April/Mai 2012 bis zum 1.7.2013 schrieb der Beschwerdeführer unter einem Pseudonym etwa hundert Beiträge in einem öffentlichen Blog mit etwa 39.000 registrierten Nutzern auf einer Website, die sich an homosexuelle Männer richtet. Um auf die Website zugreifen zu können, musste ein potenzieller Nutzer erklären, dass er volljährig ist. Der Beschwerdeführer schrieb in der ersten Person und bezog sich im Text vereinzelt auf seinen echten Vornamen. Der Inhalt seiner Blog-Einträge bestand aus Fotos und Texten im Stil eines Tagebuchs. Die Fotos zeigten hauptsächlich Männer, allein oder in Interaktion mit anderen Männern, bekleidet und nackt, in verschiedenen Situationen, darunter auch beim Geschlechtsverkehr. Andere Fotos zeigten den Beschwerdeführer, entweder allein oder wie er einen anderen Mann umarmte oder küsste. Keines der Fotos zeigte Geschlechtsorgane oder tatsächlichen Geschlechtsverkehr. Die Texte beschrieben hauptsächlich sein tägliches Leben. Zahlreiche Passagen hatten eindeutig erotische Konnotationen oder zeigten, benannten oder beschrieben explizit erotische oder sexuelle Handlungen zwischen Männern. In mehreren seiner Beiträge drückte er seine Frustration über seinen Job aus oder verwendete Schimpfwörter in Bezug auf seine Vorgesetzten. Er schrieb auch in allgemeiner Form über seine Schüler.
Der Beschwerdeführer gab an, dass er den Blog vor seinen Kollegen und Schülern geheim gehalten habe. Anscheinend wurde sein Blog jedoch vom Schulpersonal gelesen und kommentiert und hatten Schüler Kenntnis über seine Internetaktivitäten. Weder von Schülern oder deren Eltern waren der Schulleiterin gegenüber Beschwerden über den Blog geäußert worden. Sie habe gewusst, dass die Lehrer an ihrer Schule den Blog gelesen hatten, gab jedoch an, dass sich diese nicht an der sexuellen Orientierung des Beschwerdeführers gestört hatten, sondern vielmehr an den diffamierenden Kommentaren über seine Kollegen, die er separat auf Facebook abgegeben habe.
Am 1.7.2013 wurde der Beschwerdeführer von der Schulleiterin in diesem Zusammenhang gerügt und aufgefordert, den Blog zu löschen, was er noch am selben Tag tat.
Kurz darauf ließ die Schulleiterin wegen des Betriebs eines Internetblogs, der Texte und Bilder "voller Erotik und Obszönitäten" enthalte, und wegen eines separaten Vorfalls ein Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer einleiten. Das Verfahren führte zu dessen Entlassung, eine Entscheidung, die im Widerspruchsverfahren aufgehoben wurde. In der durch das Bildungsministerium eingelegten Berufung dagegen wurde die Entlassung bestätigt; Rechtsmittel waren nicht möglich.
Die Gründe:
Der EGMR stellte fest, dass die im polnischen Lehrergesetz vorgesehene gesetzliche Verpflichtung, wonach ein Lehrer darauf achten sollte, die moralischen Einstellungen der Schüler zu formen, von Natur aus ein Verbot der Weitergabe von unangemessenem Material an diese voraussetze. Er betonte daneben, dass der Blog des Beschwerdeführers nach Auffassung der Behörden und der Regierung einen Affront gegen die in Polen vorherrschenden gesellschaftlichen Sitten dargestellt habe, weil er sich explizit mit Sexualität an sich befasste, nicht aber, weil die beschriebene Art der Sexualität homosexuell war.
Es sei nicht möglich, in den Rechts- und Gesellschaftsordnungen der Konventionsstaaten ein einheitliches europäisches Moralverständnis zu finden. Die Auffassung von den Anforderungen der Moral variiere von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort. Es obliege jedoch dem beklagten Staat, das Vorliegen eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses nachzuweisen, das einer Beeinträchtigung zugrunde liegt. Bei der Regelung der Meinungsfreiheit in Bezug auf Angelegenheiten, die die intimen persönlichen Überzeugungen im Bereich der Moral oder insbesondere der Religion verletzen könnten, verfügten die Staaten im Allgemeinen über einen größeren Ermessensspielraum.
Vorliegend sei das Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer teilweise eindeutig auf Aktivitäten gerichtet gewesen, die in den Bereich der Meinungsfreiheit fallen, und der Beschwerdeführer für die Ausübung solcher Aktivitäten bestraft worden.
Im innerstaatlichen Verfahren sei der Inhalt des Blogs nur letztinstanzlich konkret angesprochen und von dem zuständigen Gericht als "profan", "obszön" und "sexuell" bezeichnet worden. Es sei jedoch nicht näher darauf eingegangen, warum die Texte und Bilder gegen die in Polen vorherrschenden gesellschaftlichen Sitten verstießen. Erwägungen wie der Tatsache, dass der Zugang zum Blog auf erwachsene Leser beschränkt war, dass der Beschwerdeführer ihn gelöscht hatte oder dass nicht nachgewiesen wurde, dass seine Tätigkeit, solange sie andauerte, negative Auswirkungen auf die Schüler gehabt habe, sei keine Bedeutung beigemessen worden.
Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass der Beschwerdeführer nicht aktiv angeblich unmoralische Inhalte an die Schüler übermittelt hatte, sondern einen Blog ohne Verbindung zur Schule schrieb. Zwar sei der Blog - entgegen dem Vortrag des Beschwerdeführers, der Blog diene rein privaten Zwecken - auf einer öffentlichen Website gehostet und von vielen Tausenden von Lesern gelesen worden, darunter seine Schüler und Kollegen. Zudem habe der Blog, obwohl er anonym gewesen sei, auf den Beschwerdeführer zurückgeführt werden können. Allerdings habe das Verhalten des Beschwerdeführers keinen Eingriff in den Bereich der Bildungspolitik oder der elterlichen Entscheidungen in Bezug auf Ethik oder Sexualität dargestellt.
Daneben hätten die innerstaatlichen Behörden nicht berücksichtigt, dass die Tätigkeit des Beschwerdeführers nicht als rechtswidrig angesehen wurde, da offenbar kein Zivil- oder Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Unberücksichtigt geblieben sei auch der Faktor, dass die Internetplattform, auf der er schrieb, sich an die Vorschriften hielt, nach denen das Ankreuzen eines Kästchens durch einen potenziellen Leser, in dem dieser bestätigt, dass er volljährig ist, für den Betrieb von Websites mit nicht jugendfreien Inhalten als hinreichend angesehen wurde. Zudem sei vergleichbares und sogar noch expliziteres Material im Internet sowie über die Presse für die erwachsene Bevölkerung in Polen allgemein verfügbar. Es überzeuge nicht, dass das Ziel der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Dienst unter anderem darin bestand, seine Schüler vor eindeutig sexuellem Material zu schützen.
Weiterhin erinnerte der EGMR daran, dass Lehrer einen Beruf ausübten, der öffentliches Vertrauen genießt. Ihre besonderen Pflichten und Verantwortlichkeiten gälten in gewissem Umfang auch für ihre außerschulischen Aktivitäten. Allerdings habe der Beschwerdeführer nicht versucht, über seinen Blog mit seinen Schülern zu interagieren oder in ihren privaten Bereich einzudringen. Auch sei er nicht an einer religiösen Schule angestellt gewesen und habe weder Religion noch Ethik unterrichtet.
Letztlich sei die Sanktion vor dem Hintergrund des Falles unverhältnismäßig gewesen.
Der EGMR bejahte mit 4:3 Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Dem Urteil ist die gemeinsame abweichende Meinung dreier Richter beigefügt. Mit Blick auf Art. 8 und 14 EMRK - wegen des separaten Vorfalls - wurde die Beschwerde abgewiesen.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Der Beschwerdeführer, ein Polnisch- und Englischlehrer, arbeitete von 2007 bis 2013 als (Klassen-)Lehrer an einer weiterführenden Schule mit Schülern im Alter von 15 bis 18 Jahren. Fünf Jahre in Folge war ihm von der Schulleiterin ein Preis für den besten Lehrer verliehen worden; 2010 und 2013 gewann er zudem nationale Wettbewerbe für den besten Klassenlehrer. Der Beschwerdeführer wurde nie gerügt, und es wurden keine Beschwerden über ihn eingereicht.
Von April/Mai 2012 bis zum 1.7.2013 schrieb der Beschwerdeführer unter einem Pseudonym etwa hundert Beiträge in einem öffentlichen Blog mit etwa 39.000 registrierten Nutzern auf einer Website, die sich an homosexuelle Männer richtet. Um auf die Website zugreifen zu können, musste ein potenzieller Nutzer erklären, dass er volljährig ist. Der Beschwerdeführer schrieb in der ersten Person und bezog sich im Text vereinzelt auf seinen echten Vornamen. Der Inhalt seiner Blog-Einträge bestand aus Fotos und Texten im Stil eines Tagebuchs. Die Fotos zeigten hauptsächlich Männer, allein oder in Interaktion mit anderen Männern, bekleidet und nackt, in verschiedenen Situationen, darunter auch beim Geschlechtsverkehr. Andere Fotos zeigten den Beschwerdeführer, entweder allein oder wie er einen anderen Mann umarmte oder küsste. Keines der Fotos zeigte Geschlechtsorgane oder tatsächlichen Geschlechtsverkehr. Die Texte beschrieben hauptsächlich sein tägliches Leben. Zahlreiche Passagen hatten eindeutig erotische Konnotationen oder zeigten, benannten oder beschrieben explizit erotische oder sexuelle Handlungen zwischen Männern. In mehreren seiner Beiträge drückte er seine Frustration über seinen Job aus oder verwendete Schimpfwörter in Bezug auf seine Vorgesetzten. Er schrieb auch in allgemeiner Form über seine Schüler.
Der Beschwerdeführer gab an, dass er den Blog vor seinen Kollegen und Schülern geheim gehalten habe. Anscheinend wurde sein Blog jedoch vom Schulpersonal gelesen und kommentiert und hatten Schüler Kenntnis über seine Internetaktivitäten. Weder von Schülern oder deren Eltern waren der Schulleiterin gegenüber Beschwerden über den Blog geäußert worden. Sie habe gewusst, dass die Lehrer an ihrer Schule den Blog gelesen hatten, gab jedoch an, dass sich diese nicht an der sexuellen Orientierung des Beschwerdeführers gestört hatten, sondern vielmehr an den diffamierenden Kommentaren über seine Kollegen, die er separat auf Facebook abgegeben habe.
Am 1.7.2013 wurde der Beschwerdeführer von der Schulleiterin in diesem Zusammenhang gerügt und aufgefordert, den Blog zu löschen, was er noch am selben Tag tat.
Kurz darauf ließ die Schulleiterin wegen des Betriebs eines Internetblogs, der Texte und Bilder "voller Erotik und Obszönitäten" enthalte, und wegen eines separaten Vorfalls ein Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer einleiten. Das Verfahren führte zu dessen Entlassung, eine Entscheidung, die im Widerspruchsverfahren aufgehoben wurde. In der durch das Bildungsministerium eingelegten Berufung dagegen wurde die Entlassung bestätigt; Rechtsmittel waren nicht möglich.
Die Gründe:
Der EGMR stellte fest, dass die im polnischen Lehrergesetz vorgesehene gesetzliche Verpflichtung, wonach ein Lehrer darauf achten sollte, die moralischen Einstellungen der Schüler zu formen, von Natur aus ein Verbot der Weitergabe von unangemessenem Material an diese voraussetze. Er betonte daneben, dass der Blog des Beschwerdeführers nach Auffassung der Behörden und der Regierung einen Affront gegen die in Polen vorherrschenden gesellschaftlichen Sitten dargestellt habe, weil er sich explizit mit Sexualität an sich befasste, nicht aber, weil die beschriebene Art der Sexualität homosexuell war.
Es sei nicht möglich, in den Rechts- und Gesellschaftsordnungen der Konventionsstaaten ein einheitliches europäisches Moralverständnis zu finden. Die Auffassung von den Anforderungen der Moral variiere von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort. Es obliege jedoch dem beklagten Staat, das Vorliegen eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses nachzuweisen, das einer Beeinträchtigung zugrunde liegt. Bei der Regelung der Meinungsfreiheit in Bezug auf Angelegenheiten, die die intimen persönlichen Überzeugungen im Bereich der Moral oder insbesondere der Religion verletzen könnten, verfügten die Staaten im Allgemeinen über einen größeren Ermessensspielraum.
Vorliegend sei das Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer teilweise eindeutig auf Aktivitäten gerichtet gewesen, die in den Bereich der Meinungsfreiheit fallen, und der Beschwerdeführer für die Ausübung solcher Aktivitäten bestraft worden.
Im innerstaatlichen Verfahren sei der Inhalt des Blogs nur letztinstanzlich konkret angesprochen und von dem zuständigen Gericht als "profan", "obszön" und "sexuell" bezeichnet worden. Es sei jedoch nicht näher darauf eingegangen, warum die Texte und Bilder gegen die in Polen vorherrschenden gesellschaftlichen Sitten verstießen. Erwägungen wie der Tatsache, dass der Zugang zum Blog auf erwachsene Leser beschränkt war, dass der Beschwerdeführer ihn gelöscht hatte oder dass nicht nachgewiesen wurde, dass seine Tätigkeit, solange sie andauerte, negative Auswirkungen auf die Schüler gehabt habe, sei keine Bedeutung beigemessen worden.
Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass der Beschwerdeführer nicht aktiv angeblich unmoralische Inhalte an die Schüler übermittelt hatte, sondern einen Blog ohne Verbindung zur Schule schrieb. Zwar sei der Blog - entgegen dem Vortrag des Beschwerdeführers, der Blog diene rein privaten Zwecken - auf einer öffentlichen Website gehostet und von vielen Tausenden von Lesern gelesen worden, darunter seine Schüler und Kollegen. Zudem habe der Blog, obwohl er anonym gewesen sei, auf den Beschwerdeführer zurückgeführt werden können. Allerdings habe das Verhalten des Beschwerdeführers keinen Eingriff in den Bereich der Bildungspolitik oder der elterlichen Entscheidungen in Bezug auf Ethik oder Sexualität dargestellt.
Daneben hätten die innerstaatlichen Behörden nicht berücksichtigt, dass die Tätigkeit des Beschwerdeführers nicht als rechtswidrig angesehen wurde, da offenbar kein Zivil- oder Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Unberücksichtigt geblieben sei auch der Faktor, dass die Internetplattform, auf der er schrieb, sich an die Vorschriften hielt, nach denen das Ankreuzen eines Kästchens durch einen potenziellen Leser, in dem dieser bestätigt, dass er volljährig ist, für den Betrieb von Websites mit nicht jugendfreien Inhalten als hinreichend angesehen wurde. Zudem sei vergleichbares und sogar noch expliziteres Material im Internet sowie über die Presse für die erwachsene Bevölkerung in Polen allgemein verfügbar. Es überzeuge nicht, dass das Ziel der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Dienst unter anderem darin bestand, seine Schüler vor eindeutig sexuellem Material zu schützen.
Weiterhin erinnerte der EGMR daran, dass Lehrer einen Beruf ausübten, der öffentliches Vertrauen genießt. Ihre besonderen Pflichten und Verantwortlichkeiten gälten in gewissem Umfang auch für ihre außerschulischen Aktivitäten. Allerdings habe der Beschwerdeführer nicht versucht, über seinen Blog mit seinen Schülern zu interagieren oder in ihren privaten Bereich einzudringen. Auch sei er nicht an einer religiösen Schule angestellt gewesen und habe weder Religion noch Ethik unterrichtet.
Letztlich sei die Sanktion vor dem Hintergrund des Falles unverhältnismäßig gewesen.
Der EGMR bejahte mit 4:3 Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Dem Urteil ist die gemeinsame abweichende Meinung dreier Richter beigefügt. Mit Blick auf Art. 8 und 14 EMRK - wegen des separaten Vorfalls - wurde die Beschwerde abgewiesen.