17.04.2025

Meinungsfreiheit - Russland: Angebliche Diskreditierung des russischen Militärs und Verbreitung von Fake News über dessen Aktionen in der Ukraine

Straf- und verwaltungsrechtliche Verurteilungen waren Teil einer breiter angelegten Kampagne zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen über Militäraktionen in der Ukraine. (Nowaja Gaseta u.a. gegen Russland)

EGMR v. 11.2.2025 - 11884/22 u.a.
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer in vorliegenden 162 Beschwerden sind neben 178 Einzelpersonen insbesondere zwei unabhängige russische Medienorganisationen, Nowaja Gaseta und Dozhd TV. Sie waren aufgrund eines im März 2022 - nach der vom russischen Präsidenten Putin als "besondere Militäroperation" bezeichneten Invasion der Ukraine - verabschiedeten Gesetzes in Straf- bzw. Verwaltungsverfahren verurteilt worden. Nach dem Gesetz ist es eine Straftat, den Einsatz der russischen Streitkräfte "in Verruf zu bringen" oder "wissentlich falsche Informationen darüber zu verbreiten". Parallel zu dem Gesetz wurden Berichterstattungsbeschränkungen in Kraft gesetzt. Die Behörden verkündeten, dass nur offizielle Quellen für die Berichterstattung über die "Operation" verwendet werden sollten.

Die Beschwerdeführer wurden insbesondere dafür sanktioniert, dass sie kritische Ansichten über die Militäraktionen Russlands in der Ukraine geäußert oder Informationen verbreitet hatten, die von den offiziellen Darstellungen abwichen. Ihre Äußerungen und/oder Berichterstattung umfassten friedliche Antikriegsproteste, Bekundungen der Unterstützung oder Solidarität mit der Ukraine, das Ziehen historischer Parallelen zu vergangenen Kriegen, das Teilen von Informationen über zivile Opfer und behauptete Kriegsverbrechen sowie allgemeine Kritik an der Politik der russischen Regierung und Unterstützung für internationale Sanktionen gegen die russische Führung. Einige der Beschwerdeführer bedienten sich dabei satirischer oder provokativer Ausdrucksformen.

Die Sanktionen umfassten Geldbußen zwischen 30.000 und 150.000 russischen Rubeln (heute etwa 320 bis 1.600 Euro), das Einfrieren von Bankkonten, Untersuchungshaft und Gefängnisstrafen. Die längste Haftstrafe von 25 Jahren wurde gegen den Oppositionspolitiker und Journalisten Wladimir Kara-Mursa wegen Reden, die er vor internationalen Organisationen gehalten hatte, verhängt, unter anderem wegen Hochverrats.

Die beiden beschwerdeführenden Medienorganisationen wurden wegen ihrer Berichterstattung über den Krieg geschlossen. Beide hatten Verwarnungen und Aufforderungen zur Entfernung von Inhalten erhalten, bevor der Zugang zu ihren Websites im März (Dozhd TV) bzw. Juli (Nowaja Gaseta) 2022 gesperrt wurde. Nowaja Gaseta wurde zudem der Verbreitung von "Fake News" für schuldig befunden, mit der Folge der Aussetzung ihrer Veröffentlichungslizenz und der erzwungenen Einstellung ihrer Online-Version, obwohl der EGMR den russischen Behörden zuvor eine einstweilige Verfügung zugestellt hatte, in der er darauf hinwies, dass sie davon absehen sollten, "die Aktivitäten von Nowaja Gaseta zu blockieren oder zu beenden".

Die Gründe:
Die Beschwerden betrafen zahlreiche Vorschriften der EMRK. Mit Blick auf Art. 10 EMRK hatte der EGMR ernsthafte Zweifel daran, dass die mit den Maßnahmen einhergehende Beeinträchtigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung der Beschwerdeführer "gesetzlich vorgeschrieben" war, und er war nicht davon überzeugt, dass sie dem Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit diente.

Die den Beschwerdeführern auferlegten Maßnahmen seien weit über die Frage hinausgegangen, ob das Verhalten oder die Äußerungen der Beschwerdeführer tatsächlich eine Bedrohung für die nationalen Interessen darstellten. Es sei eine Vielzahl von Äußerungen ins Visier genommen worden, von einfachen pazifistischen Slogans und der Unterstützung der Ukraine bis hin zu sachlichen Berichten über angebliche Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Im Wesentlichen hätten die nationalen Gerichte jegliche Berichterstattung über Informationen, die der offiziellen Darstellung widersprachen, kriminalisiert. Bereits die Verwendung des Begriffs "Krieg" anstelle von "besondere Militäroperation" sei als schädlich betrachtet worden, ohne den Inhalt oder den Kontext der verwendeten Ausdrücke zu berücksichtigen. Die Gerichte hätten ausschließlich auf offizielle Angaben Bezug genommen und nicht versucht, die Richtigkeit der Informationen oder die Redlichkeit der Beschwerdeführer bei der Verbreitung von Informationen über angebliche Kriegsverbrechen oder zivile Opfer zu beurteilen.

Zudem seien die widerstreitenden Interessen nicht abgewogen und insbesondere das starke öffentliche Interesse, die Bedeutung eines erheblichen bewaffneten Konflikts mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die europäische und globale Sicherheit und die Vorwürfe von Kriegsverbrechen nicht berücksichtigt worden. Unberücksichtigt geblieben sei daneben, dass satirische und kontroverse Ausdrucksformen zur Debatte über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse beigetragen hätten.

Der Gerichtshof betonte auch, dass die Beschwerdeführer nicht zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufgerufen hatten. Es sei insbesondere bedenklich, dass selbst harmlose Solidaritätsbekundungen mit einem angegriffenen Nachbarland und seiner Bevölkerung zu Strafverfolgungsmaßnahmen geführt hätten.

Die außergewöhnlich und unverhältnismäßig harten Sanktionen hätten nicht nur der Bestrafung gedient. Sie hätten vielmehr eine klare und einschüchternde Botschaft an die Gesellschaft insgesamt gesendet und wichtige unabhängige Stimmen in der russischen Gesellschaft zu Themen von entscheidendem öffentlichen Interesse zum Schweigen gebracht.

Es habe keine Rechtfertigung für die Einschränkung der friedlichen, gewaltfreien Meinungsäußerung der Beschwerdeführer gegeben. Die Einschränkungen seien Teil einer breiter angelegten Kampagne zur Unterdrückung von abweichenden Meinungen über Militäraktionen in der Ukraine gewesen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK sowie weiteren Menschenrechten aus der Konvention.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)