Meinungsfreiheit - Russland: Gesetz über die Einstufung als "unerwünschte Organisation"
EGMR v. 18.6.2024 - 37949/18 u.a.
Der Sachverhalt:
Mit einem russischen Gesetz aus dem Jahr 2015 wurde der Generalstaatsanwaltschaft die Befugnis übertragen, jede nicht-russische Organisation als "unerwünschte Organisation" einzustufen, wenn der Eindruck besteht, dass sie die Grundlagen der russischen Verfassungsordnung, die Verteidigungsfähigkeit oder die nationale Sicherheit untergräbt. Eine solche Einstufung führt zu strengen Einschränkungen, darunter das Verbot, Büros in Russland zu unterhalten oder Projekte im Land durchzuführen, russische Bankkonten zu nutzen, Inhalte über Medien zu verbreiten und den öffentlichen Zugang zu ihrer Website von Russland aus zu ermöglichen. Im Jahr 2021 wurde russischen Staatsangehörigen, selbst wenn sie außerhalb Russlands ansässig sind, die Mitwirkung an den Aktivitäten einer "unerwünschten Organisation" untersagt. Bei Verstößen drohen Sanktionen von Geldstrafen bis hin zu Gefängnis und Zwangsarbeit. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um vier Organisationen mit Sitz außerhalb Russlands, die als "unerwünscht" eingestuft worden waren, drei Einrichtungen mit Sitz in Russland und eine Reihe russischer Staatsangehöriger. Die russischen Beschwerdeführer waren wegen ihrer Verbindungen zu Organisationen verurteilt worden, die eine vergleichbare Einstufung als "unerwünscht" erhalten hatten.
Die Gründe:
Mit Blick auf die Einstufung einer Organisation als "unerwünscht" hielt der EGMR fest, dass dies im Ergebnis zu einem umfassenden Verbot der Tätigkeit der Organisation in Russland führe. Die Beschwerdeführer seien wegen einer Vielzahl von Aktivitäten sanktioniert worden, die die innerstaatlichen Behörden als inakzeptabel erachteten, wie die Zusammenarbeit mit ausländischen Beamten oder Organisationen, die zuvor ihrerseits als "unerwünscht" oder "ausländische Agenten" eingestuft worden waren. Es sei von den Behörden jedoch nicht vorgetragen worden, dass diese Aktivitäten gegen russische Gesetze verstoßen hätten. Die Beschwerdeführer seien nicht beschuldigt worden, zu Gewalt angestiftet, demokratische Grundsätze untergraben oder die Integrität von Wahlen beeinträchtigt zu haben. Die Venedig-Kommission des Europarates habe scharfe Kritik am Fehlen spezifischer Kriterien für das Fehlverhalten von NGOs sowie an der Verwendung vager und ungenauer Begriffe zur Beschreibung der Motive, die zu einer Einstufung als "unerwünscht" führen würden, geübt. Dieser Einschätzung schloss sich der EGMR an: Die gesetzlichen Bestimmungen über "unerwünschte Organisationen" seien nicht präzise genug formuliert, um den Beschwerdeführern die Möglichkeit zu geben vorherzusehen, dass ihre ansonsten rechtmäßigen Handlungen dazu führen würden, dass sie als "unerwünscht" eingestuft und ihre Aktivitäten in Russland verboten werden. Dieses Defizit habe die Anwendung des Gesetzes unvorhersehbar gemacht. Auch böten die von den Beschwerdeführern eingeleiteten gerichtlichen Überprüfungen keinen ausreichenden Schutz vor dem im Wesentlichen uneingeschränkten Ermessensspielraum der Exekutivbehörden.
Hinsichtlich der Beschwerdeführer, die wegen ihrer Verbindung zu "unerwünschten Organisationen" strafrechtlich verfolgt wurden, stellte der Gerichtshof fest, dass sie sich nicht auf eine Weise verhalten hatten, die nach russischem Recht verboten gewesen wäre, wenn sie nicht mit einer als "unerwünscht" eingestuften Organisation in Verbindung gebracht worden wären. Vielmehr hätten sie ihre legitimen Konventionsrechte unter anderem auf freie Meinungsäußerung ausgeübt, indem sie Inhalte in sozialen Medien teilten, sich für soziale und politische Anliegen einsetzten und an Veranstaltungen und Foren teilnahmen. Zudem seien die Beschwerdeführer auch dafür bestraft worden, dass sie Hyperlinks zu Websites "unerwünschter Organisationen" geteilt hatten, die viele Jahre vor deren Einstufung als solche veröffentlicht worden waren. Die Verpflichtung der Beschwerdeführer, zukünftige Einstufungen als "unerwünschte Organisation" vorherzusehen oder ihre Websites zu überprüfen, um sicherzustellen, dass in der Vergangenheit geteiltes Material nicht rückwirkend als Link zu einer "unerwünschten Organisation" eingestuft wurde, habe eine unverhältnismäßige abschreckende Wirkung auf ihre Meinungsfreiheit.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK sowie einen Verstoß gegen Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit).
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Mit einem russischen Gesetz aus dem Jahr 2015 wurde der Generalstaatsanwaltschaft die Befugnis übertragen, jede nicht-russische Organisation als "unerwünschte Organisation" einzustufen, wenn der Eindruck besteht, dass sie die Grundlagen der russischen Verfassungsordnung, die Verteidigungsfähigkeit oder die nationale Sicherheit untergräbt. Eine solche Einstufung führt zu strengen Einschränkungen, darunter das Verbot, Büros in Russland zu unterhalten oder Projekte im Land durchzuführen, russische Bankkonten zu nutzen, Inhalte über Medien zu verbreiten und den öffentlichen Zugang zu ihrer Website von Russland aus zu ermöglichen. Im Jahr 2021 wurde russischen Staatsangehörigen, selbst wenn sie außerhalb Russlands ansässig sind, die Mitwirkung an den Aktivitäten einer "unerwünschten Organisation" untersagt. Bei Verstößen drohen Sanktionen von Geldstrafen bis hin zu Gefängnis und Zwangsarbeit. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um vier Organisationen mit Sitz außerhalb Russlands, die als "unerwünscht" eingestuft worden waren, drei Einrichtungen mit Sitz in Russland und eine Reihe russischer Staatsangehöriger. Die russischen Beschwerdeführer waren wegen ihrer Verbindungen zu Organisationen verurteilt worden, die eine vergleichbare Einstufung als "unerwünscht" erhalten hatten.
Die Gründe:
Mit Blick auf die Einstufung einer Organisation als "unerwünscht" hielt der EGMR fest, dass dies im Ergebnis zu einem umfassenden Verbot der Tätigkeit der Organisation in Russland führe. Die Beschwerdeführer seien wegen einer Vielzahl von Aktivitäten sanktioniert worden, die die innerstaatlichen Behörden als inakzeptabel erachteten, wie die Zusammenarbeit mit ausländischen Beamten oder Organisationen, die zuvor ihrerseits als "unerwünscht" oder "ausländische Agenten" eingestuft worden waren. Es sei von den Behörden jedoch nicht vorgetragen worden, dass diese Aktivitäten gegen russische Gesetze verstoßen hätten. Die Beschwerdeführer seien nicht beschuldigt worden, zu Gewalt angestiftet, demokratische Grundsätze untergraben oder die Integrität von Wahlen beeinträchtigt zu haben. Die Venedig-Kommission des Europarates habe scharfe Kritik am Fehlen spezifischer Kriterien für das Fehlverhalten von NGOs sowie an der Verwendung vager und ungenauer Begriffe zur Beschreibung der Motive, die zu einer Einstufung als "unerwünscht" führen würden, geübt. Dieser Einschätzung schloss sich der EGMR an: Die gesetzlichen Bestimmungen über "unerwünschte Organisationen" seien nicht präzise genug formuliert, um den Beschwerdeführern die Möglichkeit zu geben vorherzusehen, dass ihre ansonsten rechtmäßigen Handlungen dazu führen würden, dass sie als "unerwünscht" eingestuft und ihre Aktivitäten in Russland verboten werden. Dieses Defizit habe die Anwendung des Gesetzes unvorhersehbar gemacht. Auch böten die von den Beschwerdeführern eingeleiteten gerichtlichen Überprüfungen keinen ausreichenden Schutz vor dem im Wesentlichen uneingeschränkten Ermessensspielraum der Exekutivbehörden.
Hinsichtlich der Beschwerdeführer, die wegen ihrer Verbindung zu "unerwünschten Organisationen" strafrechtlich verfolgt wurden, stellte der Gerichtshof fest, dass sie sich nicht auf eine Weise verhalten hatten, die nach russischem Recht verboten gewesen wäre, wenn sie nicht mit einer als "unerwünscht" eingestuften Organisation in Verbindung gebracht worden wären. Vielmehr hätten sie ihre legitimen Konventionsrechte unter anderem auf freie Meinungsäußerung ausgeübt, indem sie Inhalte in sozialen Medien teilten, sich für soziale und politische Anliegen einsetzten und an Veranstaltungen und Foren teilnahmen. Zudem seien die Beschwerdeführer auch dafür bestraft worden, dass sie Hyperlinks zu Websites "unerwünschter Organisationen" geteilt hatten, die viele Jahre vor deren Einstufung als solche veröffentlicht worden waren. Die Verpflichtung der Beschwerdeführer, zukünftige Einstufungen als "unerwünschte Organisation" vorherzusehen oder ihre Websites zu überprüfen, um sicherzustellen, dass in der Vergangenheit geteiltes Material nicht rückwirkend als Link zu einer "unerwünschten Organisation" eingestuft wurde, habe eine unverhältnismäßige abschreckende Wirkung auf ihre Meinungsfreiheit.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK sowie einen Verstoß gegen Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit).