18.09.2024

Meinungsfreiheit - Russland: Zugang zu Archiven über Repressionen aus der Sowjetzeit

Die Suche nach der historischen Wahrheit ist ein integraler Bestandteil der Meinungsfreiheit. In solchen Angelegenheiten soll das hohe Schutzniveau, das für politische Reden garantiert wird, auch für Forscher gelten. (Suprun u.a. gegen Russland)

EGMR v. 18.6.2024 - 58029/12 u.a.
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind fünf russische Staatsangehörige, die sich auf die Erforschung der Geschichte der politischen Unterdrückung in der Sowjetunion konzentrieren; Frau Dupuy, eine Schweizer Staatsangehörige, welche die Großnichte von Raoul Wallenberg (ein schwedischer Diplomat, der am Ende des Zweiten Weltkriegs Zehntausende ungarischer Juden rettete und in sowjetischer Haft verschwand) ist; und Memorial International, eine in Moskau ansässige Nichtregierungsorganisation, die für ihre Bemühungen zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie versuchten, Archivinformationen über sowjetische Repressionen, einschließlich ethnischer Deportationen und Hinrichtungen, die in den 1930er und 1940er Jahren auf Anordnung außergerichtlicher staatlicher Einrichtungen durchgeführt wurden, beziehungsweise Informationen über das Schicksal von Raoul Wallenberg zu erhalten. In allen Fällen wurde der Zugang entweder vollständig verweigert, oder die bereitgestellten Informationen waren unvollständig, oder die Beschwerdeführer wurden daran gehindert, Kopien der Originaldokumente anzufertigen. Einer der Beschwerdeführer wurde für schuldig befunden, im Rahmen seiner Archivarbeit, insbesondere zur Zwangsumsiedlung von Russlanddeutschen, unrechtmäßig "personen- und familienbezogene Geheimnisse" von Opfern ethnischer Unterdrückung gesammelt zu haben.

Die Gründe:
Der EGMR entschied, dass die Weigerung, den Beschwerdeführern Zugang zu Archivinformationen über die sowjetische Unterdrückung zu gewähren, oder ihnen das Recht zu verweigern, Kopien oder Fotos von solchen Archivinformationen anzufertigen, eine Beeinträchtigung ihres Rechts auf Information gemäß Art. 10 EMRK darstelle. Die Suche nach der historischen Wahrheit sei ein integraler Bestandteil der Meinungsfreiheit, und in solchen Angelegenheiten solle das hohe Schutzniveau, das für politische Reden garantiert wird, auch für Forscher gelten.

Da sich die Archivanfragen auf die Aktivitäten von Beamten in den 1930er und 1940er Jahren bezogen, sei davon auszugehen, dass die betreffenden Personen mittlerweile verstorben sind, was bedeute, dass ihre Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) nicht verletzt würde. Entsprechend dürften auch die einschlägigen Befindlichkeiten ihrer Nachkommen angesichts der verstrichenen Zeit minimal sein. Die Beschränkungen des Zugangs zu den angeforderten Informationen habe somit keinem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis wie dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen entsprochen. In jedem Fall hätten die russischen Gerichte auch keinen ernsthaften Versuch unternommen, die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK in den beschwerdegegenständlichen Fällen zu würdigen, sondern lediglich geprüft, ob die Entscheidungen den Anforderungen des russischen Rechts entsprachen.

Zudem hätten die innerstaatlichen Behörden keine Alternative zum Kopieren von Archivmaterial angeboten, das anderweitig zugänglich und verfügbar war. Die Beschränkungen beim Kopieren von Material seien in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Auch hätten die russischen Behörden keine relevanten und ausreichenden Gründe für ihre Entscheidungen angegeben.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK mit Blick auf alle Beschwerdeführer.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
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