18.10.2024

Meinungsfreiheit - Ungarn: Geldstrafe für Schauspieler wegen Offenlegung vertraulicher Informationen über einen Vertrag mit einer privaten Produktionsfirma in Medien

Keine Verletzung der EMRK bei Geldstrafe wegen Verstoßes gegen eine vertraglich vereinbarte Verschwiegenheitsklausel; insbesondere liegt keine Whistleblower-Eigenschaft vor.

EGMR v. 20.6.2024 - 4110/20
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Schauspieler. Er hatte mit M., einer privaten Produktionsfirma, einen unbefristeten Agenturvertrag über die Besetzung einer der Hauptrollen in einer Fernsehserie geschlossen. Diese wurde von M. im Auftrag vom MTVA, einer Gesellschaft im Besitz des ungarischen Staates, die auch von diesem finanziert wird, produziert. Laut Vertrag stellte die Fernsehserie einen Vermögenswert der öffentlich-rechtlichen Medien dar. Der Vertrag umfasste eine Verschwiegenheitsklausel, mit der sich der Beschwerdeführer unter Androhung von Schadensersatz und einer Vertragsstrafe von umgerechnet etwa 26.000 Euro damit einverstanden erklärte, keine unter den Vertrag fallenden vertraulichen Geschäftsinformationen offenzulegen. Nach der Einstellung der Produktion der Serie wegen geringer Quoten wurde der Vertrag des Beschwerdeführers seitens der M. gekündigt.

Daraufhin erhob atlatszo.hu, ein investigatives Internetportal, das sich auf die Veröffentlichung von Informationen von öffentlichem Interesse, insbesondere über öffentliche Ausgaben, spezialisiert hat, erfolgreich eine Informationsfreiheitsklage gegen MTVA, um Zugang zu Informationen über die Produktionskosten der Serie und die Offenlegung verschiedener Dokumente im Zusammenhang mit der Einstellung ihrer Produktion zu erhalten. Infolge dessen gab der Beschwerdeführer ein Videointerview mit atlatszo.hu über die Honorare, die er von M. erhalten hatte. Atlatszo.hu veröffentlichte zudem einen auf dem Interview basierenden Artikel über die Nichtzahlung einer Abfindung an den Beschwerdeführer nach der Einstellung der Serie. M. strengte daraufhin ein Verfahren gegen atlatszo.hu an, um die Rücknahme der im Artikel gemachten Aussagen zu erwirken. Im Zuge dessen sagte der Beschwerdeführer vor Gericht als Zeuge über seinen Vertrag und dessen Bedingungen aus.

M. forderte den Beschwerdeführer auf, die vorgesehene Vertragsstrafe für die Verletzung seiner Verschwiegenheitspflicht zu zahlen. Dieser kam der Aufforderung nicht nach, woraufhin M. erfolgreich ein Zivilverfahren einleitete. Sämtliche Rechtsmittel des Beschwerdeführers bis hin zu einer Verfassungsbeschwerde blieben ohne Erfolg.

Die Gründe:
Der EGMR verwies auf seine ständige Rechtsprechung, wonach sich der Schutz von Art. 10 EMRK auch auf den Arbeitsplatz im Allgemeinen erstreckt. Die Vorschrift sei nicht nur in öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer verbindlich, sondern könne auch in einschlägigen privatrechtlichen Beziehungen gelten. Die tatsächliche und wirksame Ausübung der Meinungsfreiheit hinge nicht allein von der Pflicht des Staates ab, sich nicht einzumischen, sondern könne positive Schutzmaßnahmen erfordern, selbst im Bereich der Beziehungen zwischen Einzelpersonen. In bestimmten Fällen habe der Staat sogar eine positive Verpflichtung, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu schützen, auch vor Beeinträchtigungen durch Privatpersonen.

Eine Prüfung unter der Annahme des Beschwerdeführers als Whistleblower hielt der EGMR nicht für erforderlich: Zwar sei der Beschwerdeführer in Bezug auf seinen Vertrag zur Verschwiegenheit und Diskretion verpflichtet gewesen. Er scheine jedoch nicht die einzige Person oder Teil einer kleinen Gruppe von Personen gewesen zu sein, die über die Vorgänge am Arbeitsplatz informiert und somit am besten in der Lage war, im öffentlichen Interesse zu handeln, indem er den Arbeitgeber oder die Öffentlichkeit allgemein alarmierte. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer nicht behauptet, dass er ein Fehlverhalten des Unternehmens M. habe aufdecken wollen.

Die Umstände des vorliegenden Falls beträfen kein mit einem Arbeitsverhältnis oder der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Lichte der Besonderheiten des Arbeitsrechts verbundenes Unterordnungsverhältnis. Dennoch sei das Vertragsverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und M. von gegenseitigem Vertrauen und redlicher Absicht geprägt gewesen und habe gegenseitige Rechte und Pflichten mit sich gebracht, die dem beruflichen Umfeld eigen seien und dem Beschäftigungskontext ähnelten. Dabei hätten vorliegend die Parteien selbst den Umfang ihrer vertraglichen Verpflichtungen bestimmt, und der Beschwerdeführer habe freiwillig und wissentlich der Verschwiegenheitsklausel zugestimmt und auf sein Recht auf Veröffentlichung von Informationen über die Vertragsbedingungen verzichtet.

Die Offenlegung von Informationen über die Ausgaben des Staatshaushalts als Rechtfertigung für die Veröffentlichung bestimmter Vertragsbedingungen, wie vom Beschwerdeführer vorgetragen, sei unbestreitbar von öffentlichem Interesse, so der EGMR weiter. Überdies könne das Verhalten privater Parteien, die sich zwangsläufig und wissentlich einer genauen Prüfung ihrer Handlungen aussetzen, in bestimmten Situationen eine Information von öffentlichem Interesse darstellen. Allerdings könne die Offenlegung von Informationen von öffentlichem Interesse nicht unabhängig von der Pflicht zur Vertraulichkeit oder Geheimhaltung beurteilt werden, gegen die verstoßen wurde. Vorliegend sei das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen relativ gering, da es weder um rechtswidrige Handlungen noch um verwerfliche Praktiken gegangen sei, sondern allein um die individuellen Vertragsbedingungen des Beschwerdeführers. Zudem habe die Verschwiegenheitsklausel den Zugang der Öffentlichkeit zu den betreffenden Informationen nicht gefährdet. Nach dem ungarischen Datenschutz- und Informationsgesetzes seien die Stellen, die den Staatshaushalt verwalten, gesetzlich verpflichtet, solche Daten auf Anfrage offenzulegen, worauf sich atlatszo.hu erfolgreich berufen habe. Somit habe das innerstaatliche Recht angemessene Mechanismen vorgesehen, um den Zugang der Öffentlichkeit zu den betreffenden Informationen zu gewährleisten. Die Offenlegung vertraulicher Informationen durch den Beschwerdeführer sei kein unerlässliches Mittel gewesen, um die Verfügbarkeit von Informationen zu gewährleisten, die eine Debatte über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse ermöglichen.

Zwar habe die fragliche Offenlegung den Geschäftsbetrieb von M. letztlich nicht gestört. Dennoch habe M. angesichts der großen Zahl der Beteiligten, der hohen Kosten und des erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwands für die Produktion der Serie ein grundlegendes Interesse daran, Geschäftsinformationen vertraulich zu behandeln. Vertraulichkeit sei im Allgemeinen für die Geschäftstätigkeit von M. notwendig. Aufgrund der besonderen Schwere des Verstoßes gegen vertragliche Verpflichtungen sei auch die Höhe der festgelegten Vertragsstrafe nicht zu beanstanden.

Der EGMR verneinte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
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