Musterentscheid im Verfahren gegen die MLP AG und einen früheren Vorstandsvorsitzenden
OLG Karlsruhe 16.11.2012, 17 Kap 1/09Die Musterbeklagte zu 1) ist die MLP AG. Sie ist die Führungsholding der aus mehreren Gesellschaften bestehenden MLP-Gruppe, die Bank- und Versicherungsdienstleistungen erbringt. Eine maßgebliche Rolle im vorliegenden Verfahren spielten zwei Tochtergesellschaften, die MLP Finanzdienstleistungen AG (MLP FDL) und die - mittlerweile veräußerte - MLP Lebensversicherung AG (MLP Leben).
Während die MLP Leben u.a. eigene fondsgebundene Lebensversicherungen anbot, wurde die MLP FDL ausschließlich als Versicherungsmaklerin aktiv, wobei sie auf selbstständige Handelsvertreter zurückgriff. Die Produkte der MLP Leben wurden über ein Vertriebsnetz von Vermittlern der MLP FDL vertrieben. Die MLP FDL erhielt aufgrund eines mit der MLP Leben geschlossenen Courtagevertrages für die Vermittlung von Verträgen Provisionen, deren Auszahlung im Gegensatz zu dem in dieser Zeit branchenüblichen Provisionsmodell auf die Dauer der Beitragszahlung, höchstens jedoch auf 12 Jahre, verteilt wurde.
Die der MLP FDL zukünftig zustehenden Provisionen aus dem Versicherungsgrundgeschäft waren Gegenstand von Factoringverträgen. Die Einnahmen aus diesen Factoringgeschäften wurden in den nach den Vorschriften des HGB zu erstellenden Jahresabschlüssen der MLP FDL in voller Höhe als Erträge verbucht. Rückstellungen für das Risiko des Bestands und der Durchsetzbarkeit der abgetretenen Forderungen wurden jedoch in den Jahren 1998 bis 2001 nicht oder nur in geringem Umfang gebildet.
Die MLP Leben vereinbarte mit einem Rückversicherer die Übernahme eines Teils der Risiken und Prämien. Für die Übernahme dieser Risiken sollte die MLP Leben Rückversicherungsbeiträge leisten, umgekehrt wurde die Zahlung von Rückversicherungsprovisionen an die MLP Leben vereinbart. Die aus dem Rückversicherungsvertrag erzielten Provisionen wurden in den Bilanzen der MLP Leben ertragswirksam ausgewiesen. Rückstellungen für Verbindlichkeiten wurden für das Rückversicherungsgeschäft nicht gebildet.
In 32 Parallelverfahren machten Aktionäre der MLP AG beim LG Schadensersatzansprüche gegen diese und teils gegen ihren früheren Vorstandsvorsitzenden - dem Musterbeklagten zu 2) mit dem Vorwurf geltend, den beiden Beklagten falle eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Anleger wegen der Veröffentlichung fehlerhafter Kapitalmarktinformationen in den Jahren 1998 bis 2002 in Form von Ad-hoc-Mitteilungen, Geschäftsberichten, Pressemitteilungen und Interviews zur Last. Der Gesamtbetrag der Schadensersatzforderungen beläuft sich auf über 30 Millionen Euro. Die Kläger stellten sog. Musterfeststellungsanträge nach dem KapMuG.
Das LG hat Ende 2008 einen Vorlagebeschluss erlassen und dem OLG mehrere Feststellungsziele vorgelegt, um so eine einheitliche Klärung der Anspruchsvoraussetzungen herbeizuführen. Das OLG hat daraufhin einen Musterkläger bestimmt und nach Einholung eines Sachverständigengutachtens festgestellt, dass die MLP FDL gegen das gesetzliche Gebot zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten verstoßen hat. Hinreichende Anhaltspunkte, die für einen Schädigungsvorsatz und die Sittenwidrigkeit des Handelns des Musterbeklagten zu 2) sprechen könnten, waren allerdings nicht ersichtlich.
Die Gründe:
Die MLP FDL hat Erlöse aus den von ihr in den Jahren 1998 bis 2001 betriebenen Factoringgeschäften gewinnerhöhend in die Gewinn- und Verlustrechnung eingestellt, aber die gesetzlich vorgeschriebenen Rückstellungen für daraus resultierende Einstandspflichten gegenüber dem jeweiligen Factor nicht gebildet und nicht gewinnmindernd in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen. Außerdem hat die MLP Leben von 2001 bis Ende 2002 gegen ihre Passivierungspflicht verstoßen, indem sie für Rückversicherungsprovisionen aus einem Rückversicherungsvertrag keine passiven Rechnungsabgrenzungsposten gebildet hatte, obwohl dies wegen des Provisionsmodells erforderlich gewesen wäre. Infolgedessen war jede auf der fehlerhaften Bilanzierungspraxis beruhende Kennzahl zum Konzernergebnis und Konzernumsatz der MLP AG fehlerhaft.
Allerdings waren die Anträge auf Feststellung, dass der Musterbeklagte zu 2) billigend in Kauf genommen habe, dass die fehlerhaften Kennzahlen zum Konzernergebnis oder Konzernumsatz in Kapitalmarktinformationen der Musterbeklagten zu 1) verbreitet worden seien, dass er mit Schädigungsvorsatz gehandelt habe und dass die Verbreitung der fehlerhaften Kennzahlen sittenwidrig gewesen sei, und dies ebenfalls der Musterbeklagten zu 1) zuzurechnen sei, zurückzuweisen.
Gegen eine vorsätzliche Veröffentlichung fehlerhafter Bilanzkennzahlen sprachen u.a. Umfang und Erkennbarkeit der festgestellten Bilanzierungsfehler. Denn der Rückstellungsbedarf aus den Factoringgeschäften konnte nur mit erheblichem Aufwand und fundierten bilanzrechtlichen und versicherungsmathematischen Kenntnissen ermittelt werden. Hinzu kam, dass der festgestellte Rückstellungsbedarf nicht den Schluss zuließ, dass von einer gravierenden Abweichung der zu beachtenden Bilanzierungsgrundsätze gesprochen werden konnte. Insoweit lag zumindest keine grobe Unrichtigkeit der Bilanz vor.
Die unterlassenen Rückstellungen für Factoringgeschäfte begründeten zudem keinen Anlass für die Annahme, dass konkrete Schadensfolgen bei den Anlegern zu erwarten gewesen seien. Der errechnete Rückstellungsbedarf aus den Factoringgeschäften führte nicht dazu, dass die von der Musterbeklagten zu 1) veröffentlichten Gewinnwachstumsraten von 30 Prozent signifikant unterschritten wurden. Mangels grober Unrichtigkeit der Bilanzierung fehlte es somit an einem Umstand, der die Sittenwidrigkeit begründen konnte.
Eine vorsätzliche Veröffentlichung fehlerhafter Bilanzkennzahlen hinsichtlich des Verstoßes der MLP Leben gegen die Passivierungspflicht im Zusammenhang mit dem Rückversicherungsgeschäft schied schon von vornherein aus. Denn der Verstoß gegen die Passivierungspflicht hatte eine nachvollziehbare Grundlage in der damals üblichen Bilanzierungspraxis. Für das hier vereinbarte neuartige Provisionsmodell gab es nach den Ausführungen des Sachverständigen seinerzeit keine publizierten Bilanzierungsgrundsätze. Somit waren auch keine Anhaltspunkte, die hinsichtlich der Bilanzierung des Rückversicherungsgeschäfts den Vorwurf der bewussten Schädigung bzw. der Sittenwidrigkeit rechtfertigen konnten, ersichtlich.