13.07.2023

Prioritätsfrist für Gemeinschaftsgeschmacksmuster

Eine internationale Übereinkunft, deren unmittelbare Wirkung wegen ihrer spezifischen Art verneint wird, kann auch keine Auslegungswirkung haben. Die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, um die es in diesem Rechtsmittel geht, könne unmittelbare Wirkung und daher auch Auslegungswirkung haben, weil der Unionsgesetzgeber das EU-Geschmacksmusterrecht hinsichtlich der Entstehung und der Dauer von Prioritätsrechten an diese Übereinkunft habe angleichen wollen.

EuGH, C-382/21 P: Schlussanträge der Generalanwältin vom 13.7.2023
Der Sachverhalt:
Die klagende KaiKai Company Jaeger Wichmann Gbr beantragte beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) die Eintragung von Turn- oder Sportgeräten und -artikeln als Gemeinschaftsgeschmacksmuster und beanspruchte eine Priorität, die sich auf eine frühere internationale Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (Patent Cooperation Treaty, im Folgenden: PCT) stützte. Das EUIPO wies den Prioritätsanspruch zurück. Es befand, dass eine internationale Anmeldung nach dem PCT als Grundlage für einen Prioritätsanspruch hinsichtlich eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters dienen könne. Allerdings müsse eine solche Priorität nach der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster innerhalb einer Frist von sechs Monaten in Anspruch genommen werden. Diese Frist habe die Klägerin überschritten. Die Klägerin der Auffassung, dass die anwendbare Prioritätsfrist nach der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (im Folgenden: PVÜ) zwölf Monate betrage, und erhob Klage beim EuG.

Das EuG hob die Entscheidung des EUIPO auf. Das EUIPO habe zu Unrecht eine sechsmonatige anstelle einer zwölfmonatigen Prioritätsfrist angewandt. Ein Prioritätsanspruch für ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster könne auf eine frühere internationale Anmeldung nach dem PCT gestützt werde, aber das Unionsrecht entfalte keine Regelung der anzuwendenden Prioritätsfrist. Um diese Regelungslücke zu schließen, zog das EuG die Vorschriften der PVÜ und die darin für Patente festgelegte Frist heran, die zwölf Monate beträgt. Das EUIPO legte ein Rechtsmittel ein und rügte, dass das EuG eine (nicht vorhandene) Lücke im Unionsrecht dadurch geschlossen habe, dass es der (von ihm im Übrigen falsch ausgelegten) PVÜ unmittelbare Wirkung beigemessen habe.

Die Gründe:
Die Rechtssache wirft wichtige Fragen hinsichtlich der Anwendbarkeit von internationalen Übereinkünften vor den Unionsgerichten auf - das Verhältnis zwischen der unmittelbareren Wirkung und der Auslegungswirkung internationaler Übereinkünfte sowie die Grenzen der Verpflichtung zur konformen Auslegung. Dies rechtfertigt ihre Zulassung nach dem Filterverfahren für Rechtsmittel, wonach der EuGH ein Rechtsmittel nur dann ganz oder teilweise zulässt, wenn damit eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird.

Auch wenn die EU nicht Vertragspartei der PVÜ ist, bindet diese Übereinkunft die Union über das TRIPS-Übereinkommen. Die Wirkungen, die die Verbandsübereinkunft in der Unionsrechtsordnung haben kann, sind daher dieselben wie die Wirkungen, die den WTO-Übereinkommen zukommen. In den Fällen, in denen der EuGH feststellen konnte, dass der Unionsgesetzgeber sein Recht an eine bestimmte WTO-Verpflichtung anpassen wollte, hat der EuGH eine unmittelbare Wirkung der WTO-Übereinkommen anerkannt. In den Fällen, in denen der Unionsgesetzgeber ggf. eine spezifische unionsrechtliche Maßnahme erlassen wollte, hat der EuGH hingegen von der Durchführung einer gerichtlichen Überprüfung abgesehen und keine unmittelbare Wirkung der WTO-Übereinkommen anerkannt. In den Situationen, in denen die unmittelbare Wirkung einer internationalen Übereinkunft wegen ihrer Art verneint wird, um den politischen Handlungsspielraum der Unionsorgane zu wahren, sprechen dieselben Gründe dafür, auch von einer Auslegungswirkung dieser Übereinkunft abzusehen.

Sollte die unmittelbare Wirkung der PVÜ verneint werden, kann sie demnach auch keine Auslegungswirkung haben. Allerdings kann die PVÜ unmittelbare Wirkung und damit im vorliegenden Fall Auslegungswirkung haben. Der Unionsgesetzgeber wollte mit Art. 41 Abs. 1 der Verordnung 6/2002 das EU-Geschmacksmusterrecht hinsichtlich der Entstehung und der Dauer von Prioritätsrechten an die PVÜ angleichen. Das EuG hat das Unionsrecht nicht contra legem ausgelegt, als es eine Lücke in den einschlägigen Unionsvorschriften festgestellt hat. Es hat auch keinen Fehler begangen, als es versucht hat, diese Lücke in Analogie zur PVÜ zu schließen. Gleichwohl hat das EuG diese Übereinkunft fehlerhaft ausgelegt, soweit es befunden hat, dass eine zwölfmonatige Prioritätsfrist gilt, wenn die Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters auf einer früheren Patentanmeldung beruht.

Die PVÜ ist so auszulegen, dass die Anmeldung eines späteren Geschmacksmusters (einschließlich eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters) auf eine frühere Patentanmeldung gestützt werden kann, sofern eine inhaltliche Identität des Gegenstands der beiden Anmeldungen gegeben ist. Die Dauer der Prioritätsfrist beträgt in einem solchen Fall, wie in der PVÜ für gewerbliche Muster oder Modelle vorgesehen, sechs Monate. Das EuG hat demzufolge einen Rechtsfehler begangen, als es angenommen hat, dass die Dauer der Prioritätsfrist von der Art der ersten Anmeldung und nicht der späteren Anmeldung abhänge.

Mehr zum Thema:

Kurzbeitrag:
EUIPO-Prüfungsrichtlinien für Unionsmarken und Gemeinschaftsgeschmacksmuster - Ausgabe 2023 in Kraft
Ralph Müller-Bidinger, IPRB 2023, 83
IPRB0055641

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EuGH PM Nr. 122 vom 13.7.2023
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