19.09.2024

Rechtsschutzversicherung: Objektive Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung?

Fehlt es an einer abschließenden höchstrichterlichen Klärung der für die Erfolgsaussichten einer Rechtsverfolgung maßgeblichen Frage, setzt eine zum Eingreifen des Anscheinsbeweises für ein beratungsgerechtes Verhalten des rechtsschutzversicherten Mandanten führende objektive Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung voraus, dass die Beurteilung der Erfolgsaussichten aus der maßgeblichen Sicht ex ante in jeder Hinsicht unzweifelhaft war.

BGH v. 16.5.2024 - IX ZR 38/23
Der Sachverhalt:
Der klagende Rechtsschutzversicherer nimmt den beklagten Rechtsanwalt aus übergegangenem Recht von neun Versicherungsnehmern auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch verursacht worden sein, dass der Beklagte für die Versicherungsnehmer von vornherein aussichtslose Rechtsstreitigkeiten geführt habe.

Die Versicherungsnehmer der Klägerin beteiligten sich im Jahr 2004 zum Zwecke der Kapitalanlage an der J. GmbH & Co. KG. Gründungskommanditistin der J. war die T. Die Versicherungsnehmer schlossen mit der T. einen Treuhandvertrag, aufgrund dessen die T. zusätzlich zu ihrem eigenen Anteil weitere Kommanditanteile als Treuhänderin für die Versicherungsnehmer hielt. Bei der T. handelte es sich um eine Steuerberatungsgesellschaft; sie unterhielt deshalb eine Berufshaftpflichtversicherung. In den zugrundeliegenden Versicherungsvertrag waren die Allgemeinen Bedingungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung für Angehörige der wirtschaftsprüfenden und wirtschafts- und steuerberatenden Berufe und die Besonderen Bedingungen und Risikobeschreibungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung von Steuerberatern und Steuerbevollmächtigten einbezogen. Die Versicherungsbedingungen sahen Versicherungsschutz (auch) für eine Tätigkeit der T. als "nicht geschäftsführender Treuhänder" vor. Von der Deckung ausgeschlossen waren Haftpflichtansprüche aus Verstößen im Bereich des unternehmerischen Risikos.

Die Beteiligungen der Versicherungsnehmer der Klägerin entwickelten sich nicht wie erwartet. Nachdem das Insolvenzverfahren über das Vermögen der T. eröffnet worden war, gab der Insolvenzverwalter den Deckungsanspruch der T. gegen deren Vermögensschadenhaftpflichtversicherer wegen möglicher Schadensersatzansprüche der Anleger gegen die T. aus der Masse frei. Die Versicherungsnehmer der Klägerin beauftragten den Beklagten mit der Prüfung eines rechtlichen Vorgehens aus dem freigegebenen Deckungsanspruch gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer. Die Rechtsverfolgung blieb in allen Fällen erfolglos. In zwei Urteilen vom 9.7.2013 (II ZR 193/11 und II ZR 9/12) nahm der BGH bzgl. anderer Fondsgesellschaften eine Haftung der T. gegenüber Anlegern unter dem Gesichtspunkt der Prospekthaftung im weiteren Sinne an. Dabei verwies der BGH darauf, dass die T. im Verhältnis zu den Anlegern als Altgesellschafterin anzusehen sei, deren Stellung sich nicht in dem treuhänderischen Halten von Beteiligungen der Treugeber erschöpft habe. Haftungserleichterungen für rein kapitalistische Anleger kämen ihr deshalb nicht zugute. Sie hafte unabhängig von ihrer Stellung als Treuhandkommanditistin auch als "normale" Gesellschafterin.

Die Klägerin stützt ihre Schadensersatzansprüche auf die ihren Versicherungsnehmern durch eine (weitere) Rechtsverfolgung nach dem 9.7.2013 entstandenen Kostenschäden. Das betrifft im Fall einer Versicherungsnehmerin die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens (Deckungszusage 12.8.2013), in den Fällen aller neun Versicherungsnehmer die Kosten des Berufungsverfahrens (Deckungszusagen zwischen dem 22.9. und dem 15.2.2016) und in den Fällen von vier Versicherungsnehmern die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde (Deckungszusagen zwischen dem 16.8.2016 und dem 1.9.2016). Die Klägerin verlangt von dem Beklagten Ersatz der von ihr aufgrund der erteilten Deckungszusagen in den Ausgangsverfahren erstatteten Kosten der Rechtsverfolgung. Sie wirft dem Beklagten vor, nicht pflichtgemäß über die (fehlenden) Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung aufgeklärt zu haben.

Das LG wies die Klage ab; das OLG gab ihr ganz überwiegend statt. Auf die Revision des Beklagten hob der BGH das Urteil des OLG auf und wies die Berufung der Klägerin gegen das Urteil LG zurück.

Die Gründe:
Nach den getroffenen Feststellungen kann die Klägerin vom Beklagten nicht Ersatz der streitgegenständlichen Kostenschäden aus gem. § 86 Abs. 1 VVG übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmer verlangen (§ 280 Abs. 1, § 675 Abs. 1 BGB).

Rechtsfehlerhaft ist die Feststellung des OLG, die Versicherungsnehmer der Klägerin hätten sich im Falle zutreffender Rechtsberatung gegen eine (weitere) Rechtsverfolgung entschieden. Die Frage, wie sich der Mandant bei vertragsgerechter Belehrung durch den rechtlichen Berater verhalten hätte, zählt zur haftungsausfüllenden Kausalität, die der Anspruchsteller nach dem Maßstab des § 287 ZPO zu beweisen hat. Zu Gunsten des Anspruchstellers ist jedoch zu vermuten, der Mandant wäre bei pflichtgemäßer Beratung den Hinweisen des Rechtsanwalts gefolgt, sofern im Falle sachgerechter Aufklärung aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte. Eine solche Vermutung kommt hingegen nicht in Betracht, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, sondern nach pflichtgemäßer Beratung verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären, die unterschiedliche Vorteile und Risiken in sich geborgen hätten. Greift die Vermutung beratungsgerechten Verhaltens ein, so liegt hierin keine Beweislastumkehr, sondern ein Anscheinsbeweis, der durch den Nachweis von Tatsachen entkräftet werden kann, die für ein atypisches Verhalten des Mandanten im Falle pflichtgemäßer Beratung sprechen.

Mit Urteil vom 16.9.2021 (IX ZR 165/19, WM 2023, 91 Rn. 37 ff) hat der BGH Grundsätze zum Eingreifen des Anscheinsbeweises im Falle pflichtwidriger Beratung über die Erfolgsaussichten eines rechtlichen Vorgehens bei bestehendem Deckungsanspruch aus einer Rechtsschutzversicherung oder bereits vorliegender Deckungszusage entwickelt. In diesem Fall greift der Anscheinsbeweis nur ein, wenn die (weitere) Rechtsverfolgung des Mandanten objektiv aussichtslos war; ist das Kostenrisiko durch eine (versicherungs-)rechtlich einwandfrei herbeigeführte und daher bestandsfeste Deckungszusage weitestgehend ausgeschlossen, können schon ganz geringe Erfolgsaussichten den Mandanten dazu veranlassen den Rechtsstreit zu führen oder fortzusetzen.

Der Anscheinsbeweis setzt voraus, dass ein Sachverhalt feststeht, auf dessen Grundlage die Schlussfolgerung gerechtfertigt ist, dass der Mandant bei zutreffender Beratung von einer Rechtsverfolgung abgesehen hätte. Ausgangspunkt ist die allgemeine Lebenserfahrung. Dies kann angesichts der Interessen eines rechtsschutzversicherten Mandanten, mit Hilfe seiner Rechtsschutzversicherung von Kostenrisiken befreit zu werden, erst dann bejaht werden, wenn das Ergebnis der rechtlichen Beurteilung in jeder Hinsicht unzweifelhaft ist. Die Annahme der Aussichtslosigkeit unterliegt hohen Anforderungen. Die Rechtsverfolgung muss aus der maßgeblichen Sicht ex ante aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen objektiv aussichtslos gewesen sein.

Dies kommt etwa in Betracht, wenn eine streitentscheidende Rechtsfrage höchstrichterlich abschließend geklärt ist. Auch dann können aber im Schrifttum geäußerte Bedenken, mit denen sich die Rechtsprechung noch nicht auseinandergesetzt hat, Veranlassung zu der Annahme geben, die Rechtsprechung werde noch einmal überdacht. Geht es um die Beurteilung materiell-rechtlicher Fragen, muss klar sein, welcher Sachverhalt der rechtlichen Beurteilung im jeweils maßgeblichen Zeitpunkt der Beratung zugrunde zu legen ist. Fehlt es an einer höchstrichterlichen Klärung, muss sich der Sachverhalt zudem derart unter Rechtsvorschriften subsumieren lassen, dass das Ergebnis einer Auslegung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zweifelhaft sein kann. Eine Rechtsverfolgung kann auch in tatsächlicher Hinsicht objektiv aussichtslos sein. Das kommt in Betracht, wenn der dem Mandanten ohne jeden Zweifel obliegenden Darlegungs- und Beweislast offenkundig nicht genügt werden kann. Diese Grundsätze hat das OLG hier verkannt.

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