15.02.2022

Soziale Netzwerke: Kein Recht auf Löschung und Sperrung im Wege einer ergänzender Vertragsauslegung

Ist die AGB-Klausel des Anbieters eines sozialen Netzwerks, die ihn zur Löschung von Nutzerbeiträgen berechtigt, unwirksam, ergibt sich ein Recht zur Löschung nicht rechtswidriger Beiträge auch nicht im Wege ergänzender Vertragsauslegung. Dem Anspruch des Nutzers auf Freischaltung eines vertragswidrig gelöschten Beitrages kann der Anbieter auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Geltendmachung des Anspruchs sei treuwidrig.

OLG Celle v. 20.1.2022 - 13 U 84/19
Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte im Januar 2019 auf dem von der Beklagten betriebenen sozialen Netzwerk einen Artikel über ein neues Gesetz des US-Bundesstaates N. Y. zum Schwangerschaftsabbruch mit den Worten: "die Amis sind einfach nur pervers, und haben spaß am morden echt furchtbar" kommentiert. Im Mai 2019 kommentierte der Kläger zudem einen von einem Drittnutzer geteilten Artikel von einer russischen Internetseite. In dem Artikel wurde unter der Überschrift "Attenkirchen: Nackter Afrikaner verwüstet Unterkunft, baut mit Mobiliar Barrikade und blockiert Straße" von einem Asylbewerber berichtet, der nach dem geschilderten Vorfall wegen Fremdgefährdung in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Der Kläger kommentierte den Artikel mit dem Wort "umfahren".

Die Beklagte hat daraufhin die Kommentare gelöscht und die Nutzungsrechte des Klägers vorübergehend eingeschränkt. Der Kläger war der Ansicht, die Löschungen seiner Beiträge und die Sperrungen seines Accounts seien zu Unrecht erfolgt. Seine Beiträge hätten nicht gegen die Gemeinschaftsstandards der Beklagten verstoßen. Ohnehin berechtigten bloße Verstöße gegen die Gemeinschaftsstandards die Beklagte nicht zur Löschung von Beiträgen oder zur Sperrung des Nutzers. Die Beklagte war der Auffassung, die streitgegenständlichen Beiträge des Klägers verstießen gegen ihre wirksam vereinbarten Gemeinschaftsstandards. Sie sei deshalb zur Löschung der Beiträge und den zeitweisen Sperrungen des Klägers berechtigt gewesen.

das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG die Entscheidung aufgehoben und der Klage stattgegeben.

Die Gründe:
Der Kläger hat gegen die Beklagte gem. § 280 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 249 Abs. 1 BGB einen Anspruch darauf, die von ihr gelöschten Beiträge wieder freizuschalten.

Die Beklagte hat durch die vorgenommene Löschung der Posts ihre vertraglichen Pflichten aus dem Nutzungsvertrag verletzt. Sie war zur Löschung der Beiträge nicht berechtigt. Es besteht kein Recht der Beklagten zur Löschung der streitgegenständlichen Beiträge des Klägers gem. Nr. 3.2 der Nutzungsbedingungen i.V.m. Teil III Nr. 12 der Gemeinschaftsstandards. Denn der dort bestimmte Entfernungsvorbehalt ist gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam (BGH-Urt. v. 29.7.2021 - III ZR 179/20). Der Senat folgt der Beurteilung des BGH in der vorgenannten Entscheidung.

Die Beklagte war auch nicht deshalb zur Entfernung der Beiträge des Klägers berechtigt, weil diese einen strafbaren Inhalt enthielten. Zwar ist die Beklagte gehalten, unverzüglich tätig zu werden, um strafbare Inhalte in ihrem sozialen Netzwerk zu entfernen oder zu sperren, sobald sie Kenntnis von Tatsachen oder Umständen erlangt hat, aus denen die Rechtswidrigkeit der Beiträge offensichtlich wird. Eine Strafbarkeit der streitgegenständlichen Beiträge ist jedoch nicht gegeben und wurde von der Beklagten auch nicht geltend gemacht.

Ein Recht zur Löschung der Beiträge ergibt sich auch nicht aus dem sonstigen Vertragsrecht. Es kommt insbesondere nicht in Betracht, im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung an Stelle der unwirksamen AGB-Klausel ein grundrechtskonformes Löschungsrecht zu setzen. Bei unwirksamen AGB kommt eine ergänzende Vertragsauslegung - bei Fehlen gesetzlicher Vorschriften, die an die Stelle der unwirksamen Klausel treten (§ 306 Abs. 2 BGB) - nur ganz ausnahmsweise in Betracht, nämlich wenn die ersatzlose Streichung der Klausel zu einem Ergebnis führt, das den beiderseitigen Interessen nicht mehr in vertretbarer Weise Rechnung trägt, sondern das Vertragsgefüge völlig einseitig zugunsten des Vertragspartners des Verwenders verschieben würde, so dass diesem ein Festhalten an dem lückenhaften Vertrag nicht zuzumuten wäre (BGH-Urt. v. 15.2.2019 - V ZR 77/18) Davon konnte im Streitfall keine Rede sein. Die Beklagte kann weiterhin strafbare Nutzerbeiträge löschen.

Dem Anspruch des Nutzers auf Freischaltung eines vertragswidrig gelöschten Beitrages kann der Anbieter auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Geltendmachung des Anspruchs sei treuwidrig, weil der Beitrag gegen die Gemeinschaftsstandards des sozialen Netzwerks verstoße und der Nutzer daher seinerseits zur Löschung des wieder freigeschalteten Beitrags verpflichtet wäre (Rückgewähreinwand aus § 242 BGB - "Dolo-agit-Einwand"). Setzt sich jemand absichtlich über ein fremdes Recht hinweg, um einen Anspruch durchzusetzen, reduziert sich sein Treueanspruch. Nach dem Rechtsgedanken des § 863 BGB ist ihm dann je nach Schwere des Treueverstoßes der Rückgewähreinwand zu versagen, auch wenn er damit den Rückgewähranspruch nicht endgültig verliert.

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