04.03.2022

Thermofenster bei Dieselmotoren: Umwelthilfe darf gegen Entscheidung des Kraftfahrt-Bundesamtes klagen

Anerkannte Umweltvereinigungen müssen eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge, die mit möglicherweise verbotenen Abschalteinrichtungen ausgestattet sind, vor Gericht anfechten können. Ein Thermofenster kann nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein.

EuGH, C-873/19: Schlussanträge des Generalanwalts vom 3.3.2022
Der Sachverhalt:
Das Kraftfahrt-Bundesamt ist die in Deutschland für die Erteilung der EG-Typgenehmigung zuständige Behörde. Es genehmigte für Fahrzeuge des Automobilherstellers Volkswagen AG, die mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 ausgerüstet sind, eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software, die bei bestimmten äußeren Temperaturen die Abgasrückführung reduziert (Thermofenster), was eine Erhöhung der Stickoxidemissionen (NOx) zur Folge hat. Die Deutsche Umwelthilfe, eine in Deutschland anerkannte Umweltvereinigung, erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Schleswig-Holsteinischen VG und machte geltend, dass es sich bei dieser Software um eine nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) verbotene Abschalteinrichtung handele.

Dem VG zufolge fehlt der Deutschen Umwelthilfe nach deutschem Recht die Klagebefugnis zur Anfechtung der Entscheidung des Kraftfahrt-Bundesamtes. Sie sei durch diese Entscheidung nämlich nicht in ihren Rechten verletzt. Durch diese Entscheidung werde auch kein eine ortsfeste Anlage betreffendes Vorhaben zugelassen, sondern ein Produkt. Das VG möchte daher vom EuGH wissen, ob das Übereinkommen von Aarhus (über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten) i.V.m. dem von der Charta der Grundrechte der EU verbürgten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verlangt, dass eine solche Vereinigung eine Verwaltungsentscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, im Hinblick auf das Verbot von Abschalteinrichtungen vor den nationalen Gerichten anfechten kann.

Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird, möchte das VG zweitens wissen, ob die Notwendigkeit einer Abschalteinrichtung wie des Thermofensters, die ihre Verwendung zulässig machen könnte, nach dem Stand der Technik zum Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung für die betreffenden Fahrzeuge zu beurteilen ist und ob weitere Umstände zu berücksichtigen sind, die zur Zulässigkeit einer solchen Abschalteinrichtung führen könnten.

Die Gründe:
Eine anerkannte Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, muss eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, die möglicherweise gegen das Verbot von Abschalteinrichtungen verstößt, vor einem innerstaatlichen Gericht anfechten können. Das Übereinkommen von Aarhus verpflichtet i.V.m. der Charta die Mitgliedstaaten nämlich dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Umweltrecht der Union garantierten Rechte zu gewährleisten.

Die aus dem Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften sind in den meisten Fällen auf das allgemeine Interesse und nicht auf den alleinigen Schutz der Rechtsgüter Einzelner gerichtet. Es ist Aufgabe gerade der Umweltvereinigungen, dieses Allgemeininteresse zu schützen. Darüber hinaus ist die Bestimmung des Unionsrechts, nach der Abschalteinrichtungen, von Ausnahmefällen abgesehen, verboten sind, in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar und als Teil der Bestimmungen des innerstaatlichen Umweltrechts anzusehen. Ihre praktische Wirksamkeit verlangt, bei einer Prüfung unter dem Blickwinkel des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, anerkannten Umweltvereinigungen das Recht zu gewährleisten, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten, mit der die EG-Typgenehmigung erteilt wird. Keine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung scheint einem solchen Zugang zu den Gerichten entgegenstehen zu können.

Die Notwendigkeit einer Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs, die zu ihrer Zulässigkeit führen könnte, ist nicht anhand des Stands der Technik im Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung zu beurteilen. Die Verordnung verfolgt einen technikneutralen Ansatz. Die Automobilhersteller haben somit einfach die technischen Vorrichtungen anzuwenden, damit diese Grenzwerte eingehalten werden, ohne dass die eingesetzte Technik zwangsläufig die bestmögliche sein müsste oder vorgeschrieben wäre. Besteht keine Notwendigkeit für die Abschalteinrichtung, gibt es darüber hinaus keine anderen Umstände, die zur Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung führen könnten, so dass für die Prüfung der Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung keine anderen Umstände als diese Notwendigkeit zu berücksichtigen sind.

Mehr zum Thema:
  • Kurzbeitrag: BGH - Anspruch des Dieselkäufers nach seiner Wahl auf "kleinen" oder "großen" Schadensersatz (ZIP 2022, R4)
  • Kurzbeitrag: EuGH GA: EU-Rechtswidrigkeit von Thermofenstern (ZIP 2021, R75)
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