Überschuldung ist eigenständiges Beweisanzeichen für Gläubigerbenachteiligungsvorsatz
BGH v. 3.3.2022 - IX ZR 53/19
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 16.8.2013 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. GmbH (Schuldnerin). Die Schuldnerin wurde durch Gesellschaftsvertrag vom 4.2.2010 mit einem Stammkapital von 25.000 € gegründet. Gegenstand des Unternehmens der Schuldnerin war der Betrieb eines ambulanten Pflegedienstes. Der Jahresabschluss der Schuldnerin für das erste Geschäftsjahr wies zum 31.12.2010 einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag i.H.v. rd. 205.000 € und damit eine handelsbilanzielle Überschuldung aus. In dem darauffolgenden Jahresabschluss zum 31.12.2011 war der Fehlbetrag auf rd. 431.000 € angestiegen. Zu der angestiegenen handelsbilanziellen Überschuldung trugen Verbindlichkeiten gegenüber Gesellschaftern i.H.v. 420.000 € maßgeblich bei.
Die Schuldnerin reichte die Jahresabschlüsse zusammen mit ihren Jahressteuererklärungen bei der Veranlagungsstelle des beklagten Finanzamts ein. Am 15.1., 14. und 15.2.2013 zog die Einzugsstelle der Beklagten Steuerverbindlichkeiten der Schuldnerin i.H.v. insgesamt es. 21.000 € per Lastschrift ein. Das Zahlungsverhalten der Schuldnerin gegenüber der Beklagten war bis zu diesen Zeitpunkten ohne Beanstandung. Mit Ausnahme der beiden Jahresabschlüsse gab es aus Sicht der Beklagten auch sonst keinen Anhaltspunkt für wirtschaftliche Schwierigkeiten der Schuldnerin.
Unter dem Gesichtspunkt der Vorsatzanfechtung verlangt der Kläger von der Beklagten Rückgewähr der per Lastschrift eingezogenen 21.000 €. Er ist der Ansicht, der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin und die Kenntnis der Beklagten von diesem Vorsatz ließen sich aus der den Jahresabschlüssen zu entnehmenden handelsbilanziellen Überschuldung der Schuldnerin ableiten. Jahresabschlüsse, die wiederholt und ansteigend nicht durch Eigenkapital gedeckte Fehlbeträge in Höhe eines Vielfachen des Stammkapitals auswiesen und aus denen sich keine Anhaltspunkte für nennenswerte stille Reserven ergäben, vermittelten die Kenntnis von der insolvenzrechtlichen Überschuldung i.S.d. § 19 InsO. Eine andere Beurteilung komme nur in Betracht, wenn sich aus dem Jahresabschluss ergebe, dass eine Fortführung des Unternehmens im Sinne von § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO in der gebotenen Weise geprüft und bejaht worden sei.
LG und OLG wiesen die Klage ab. Die Revision des Klägers hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Mit Recht hat das OLG angenommen, dass eine Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO in der auf den Streitfall anwendbaren, bis zum 4.4.2017 geltenden Fassung jedenfalls daran scheitert, dass die Beklagte einen möglichen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin nicht kannte. Weitere Anfechtungstatbestände scheiden von vornherein aus.
Auch eine Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO gehört zu den Umständen, die in die Gesamtwürdigung aller für und gegen den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis von diesem sprechende Umstände einzubeziehen sind. Der entscheidende Grund dafür ist die negative Fortführungsprognose, welche den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlich macht. Die insolvenzrechtliche Überschuldung ist nicht nur deshalb zu berücksichtigen, weil der insolvenzrechtlich überschuldete Schuldner in vielen Fälle zugleich drohend zahlungsunfähig i.S.d. § 18 Abs. 2 InsO ist. Die Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO ist nicht nur Hinweis auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit, sondern ein eigenständiges Beweisanzeichen für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO.
Die Stärke des Beweisanzeichens entspricht allerdings weitgehend dem der drohenden Zahlungsunfähigkeit. Daran ändert nichts, dass aus der insolvenzrechtlichen Überschuldung, anders als im Falle der drohenden Zahlungsunfähigkeit, eine Insolvenzantragspflicht erwächst (vgl. § 15a InsO). Maßgeblicher Gesichtspunkt für die Beurteilung der Überzeugungskraft des Beweisanzeichens sind sowohl im Falle der drohenden Zahlungsunfähigkeit als auch im Blick auf die Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit und die zeitliche Nähe ihres Eintritts.
Im Ergebnis mit Recht hat das OLG erkannt, dass die Beklagte den (unterstellten) Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin nicht kannte. Die Kenntnis von einer möglichen insolvenzrechtlichen Überschuldung der Schuldnerin folgt nicht daraus, dass auf Seiten der Beklagten die Jahresabschlüsse der im Februar 2010 gegründeten Schuldnerin zum 31.12.2010 und 31.12.2011 vorlagen, die nicht durch Eigenkapital gedeckte Fehlbeträge von rd. 205.000 € (Geschäftsjahr 2010) und 431.000 € (Geschäftsjahr 2011) auswiesen. Allein aus der ansteigenden, zuletzt für den 31.12.2011 festgestellten handelsbilanziellen Überschuldung lässt sich nicht auf die Kenntnis der Beklagten vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin in den nach § 140 InsO maßgeblichen Zeitpunkten der angefochtenen Lastschriftzahlungen vom 15.1., 14. und 15.2.2013 i.H.v. insgesamt rd. 21.000 € schließen. Für die Annahme einer Überschuldung i.S.d. § 19 InsO fehlt es an einer § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO entsprechenden gesetzlichen Vermutung. Will der nach § 133 Abs. 1 InsO anfechtende Insolvenzverwalter den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz oder die Kenntnis von diesem auf eine insolvenzrechtliche Überschuldung stützen, muss er deshalb deren Eintritt im Grundsatz voll beweisen.
An der vorstehenden Beurteilung ändert nichts, dass es sich bei dem beklagten Finanzamt um einen institutionellen Gläubiger handelt, den laut BGH-Rechtsprechung Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheiten treffen können. In einem nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO zu beurteilenden Anfechtungsfall ist der BGH davon ausgegangen, der Gläubiger könne aufgrund von Presseberichten, die keine amtliche Verlautbarung enthalten, nach den Umständen gehalten sein, sich nach der Zahlungsfähigkeit des Schuldners zu erkundigen. Dies beruhte auf den gegenüber § 133 Abs. 1 InsO a.F. geringeren subjektiven Anforderungen des § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO. Mit Urteil vom 19.2.2009 (IX ZR 62/08) hat der BGH Arbeitnehmer von einer Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit ausgenommen und diese auf institutionelle Gläubiger wie den Fiskus oder die Sozialversicherungsträger begrenzt. Später hat er klargestellt, dass die Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit an besondere Umstände anknüpfe. Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, kann offenbleiben. Die im Rahmen des Besteuerungsverfahrens erfolgende Übermittlung eines Jahresabschlusses, dem sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag entnehmen lässt, ist jedenfalls kein Umstand, der eine Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit der Finanzverwaltung im Blick auf eine mögliche insolvenzrechtliche Überschuldung auslöst.
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Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 16.8.2013 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. GmbH (Schuldnerin). Die Schuldnerin wurde durch Gesellschaftsvertrag vom 4.2.2010 mit einem Stammkapital von 25.000 € gegründet. Gegenstand des Unternehmens der Schuldnerin war der Betrieb eines ambulanten Pflegedienstes. Der Jahresabschluss der Schuldnerin für das erste Geschäftsjahr wies zum 31.12.2010 einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag i.H.v. rd. 205.000 € und damit eine handelsbilanzielle Überschuldung aus. In dem darauffolgenden Jahresabschluss zum 31.12.2011 war der Fehlbetrag auf rd. 431.000 € angestiegen. Zu der angestiegenen handelsbilanziellen Überschuldung trugen Verbindlichkeiten gegenüber Gesellschaftern i.H.v. 420.000 € maßgeblich bei.
Die Schuldnerin reichte die Jahresabschlüsse zusammen mit ihren Jahressteuererklärungen bei der Veranlagungsstelle des beklagten Finanzamts ein. Am 15.1., 14. und 15.2.2013 zog die Einzugsstelle der Beklagten Steuerverbindlichkeiten der Schuldnerin i.H.v. insgesamt es. 21.000 € per Lastschrift ein. Das Zahlungsverhalten der Schuldnerin gegenüber der Beklagten war bis zu diesen Zeitpunkten ohne Beanstandung. Mit Ausnahme der beiden Jahresabschlüsse gab es aus Sicht der Beklagten auch sonst keinen Anhaltspunkt für wirtschaftliche Schwierigkeiten der Schuldnerin.
Unter dem Gesichtspunkt der Vorsatzanfechtung verlangt der Kläger von der Beklagten Rückgewähr der per Lastschrift eingezogenen 21.000 €. Er ist der Ansicht, der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin und die Kenntnis der Beklagten von diesem Vorsatz ließen sich aus der den Jahresabschlüssen zu entnehmenden handelsbilanziellen Überschuldung der Schuldnerin ableiten. Jahresabschlüsse, die wiederholt und ansteigend nicht durch Eigenkapital gedeckte Fehlbeträge in Höhe eines Vielfachen des Stammkapitals auswiesen und aus denen sich keine Anhaltspunkte für nennenswerte stille Reserven ergäben, vermittelten die Kenntnis von der insolvenzrechtlichen Überschuldung i.S.d. § 19 InsO. Eine andere Beurteilung komme nur in Betracht, wenn sich aus dem Jahresabschluss ergebe, dass eine Fortführung des Unternehmens im Sinne von § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO in der gebotenen Weise geprüft und bejaht worden sei.
LG und OLG wiesen die Klage ab. Die Revision des Klägers hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Mit Recht hat das OLG angenommen, dass eine Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO in der auf den Streitfall anwendbaren, bis zum 4.4.2017 geltenden Fassung jedenfalls daran scheitert, dass die Beklagte einen möglichen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin nicht kannte. Weitere Anfechtungstatbestände scheiden von vornherein aus.
Auch eine Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO gehört zu den Umständen, die in die Gesamtwürdigung aller für und gegen den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis von diesem sprechende Umstände einzubeziehen sind. Der entscheidende Grund dafür ist die negative Fortführungsprognose, welche den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlich macht. Die insolvenzrechtliche Überschuldung ist nicht nur deshalb zu berücksichtigen, weil der insolvenzrechtlich überschuldete Schuldner in vielen Fälle zugleich drohend zahlungsunfähig i.S.d. § 18 Abs. 2 InsO ist. Die Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO ist nicht nur Hinweis auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit, sondern ein eigenständiges Beweisanzeichen für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO.
Die Stärke des Beweisanzeichens entspricht allerdings weitgehend dem der drohenden Zahlungsunfähigkeit. Daran ändert nichts, dass aus der insolvenzrechtlichen Überschuldung, anders als im Falle der drohenden Zahlungsunfähigkeit, eine Insolvenzantragspflicht erwächst (vgl. § 15a InsO). Maßgeblicher Gesichtspunkt für die Beurteilung der Überzeugungskraft des Beweisanzeichens sind sowohl im Falle der drohenden Zahlungsunfähigkeit als auch im Blick auf die Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit und die zeitliche Nähe ihres Eintritts.
Im Ergebnis mit Recht hat das OLG erkannt, dass die Beklagte den (unterstellten) Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin nicht kannte. Die Kenntnis von einer möglichen insolvenzrechtlichen Überschuldung der Schuldnerin folgt nicht daraus, dass auf Seiten der Beklagten die Jahresabschlüsse der im Februar 2010 gegründeten Schuldnerin zum 31.12.2010 und 31.12.2011 vorlagen, die nicht durch Eigenkapital gedeckte Fehlbeträge von rd. 205.000 € (Geschäftsjahr 2010) und 431.000 € (Geschäftsjahr 2011) auswiesen. Allein aus der ansteigenden, zuletzt für den 31.12.2011 festgestellten handelsbilanziellen Überschuldung lässt sich nicht auf die Kenntnis der Beklagten vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin in den nach § 140 InsO maßgeblichen Zeitpunkten der angefochtenen Lastschriftzahlungen vom 15.1., 14. und 15.2.2013 i.H.v. insgesamt rd. 21.000 € schließen. Für die Annahme einer Überschuldung i.S.d. § 19 InsO fehlt es an einer § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO entsprechenden gesetzlichen Vermutung. Will der nach § 133 Abs. 1 InsO anfechtende Insolvenzverwalter den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz oder die Kenntnis von diesem auf eine insolvenzrechtliche Überschuldung stützen, muss er deshalb deren Eintritt im Grundsatz voll beweisen.
An der vorstehenden Beurteilung ändert nichts, dass es sich bei dem beklagten Finanzamt um einen institutionellen Gläubiger handelt, den laut BGH-Rechtsprechung Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheiten treffen können. In einem nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO zu beurteilenden Anfechtungsfall ist der BGH davon ausgegangen, der Gläubiger könne aufgrund von Presseberichten, die keine amtliche Verlautbarung enthalten, nach den Umständen gehalten sein, sich nach der Zahlungsfähigkeit des Schuldners zu erkundigen. Dies beruhte auf den gegenüber § 133 Abs. 1 InsO a.F. geringeren subjektiven Anforderungen des § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO. Mit Urteil vom 19.2.2009 (IX ZR 62/08) hat der BGH Arbeitnehmer von einer Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit ausgenommen und diese auf institutionelle Gläubiger wie den Fiskus oder die Sozialversicherungsträger begrenzt. Später hat er klargestellt, dass die Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit an besondere Umstände anknüpfe. Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, kann offenbleiben. Die im Rahmen des Besteuerungsverfahrens erfolgende Übermittlung eines Jahresabschlusses, dem sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag entnehmen lässt, ist jedenfalls kein Umstand, der eine Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit der Finanzverwaltung im Blick auf eine mögliche insolvenzrechtliche Überschuldung auslöst.
- Aufsatz: Linsenbarth, Kliebisch - Nichts Neues zur Anfechtung im Insolvenzrecht: Anwendbarkeit der Indiz- und Vermutungswirkung bei Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung? (ZIP 2022, 512)
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