03.02.2022

Verfassungsbeschwerde gegen fachgerichtliche Versagung der Auskunft über Bestandsdaten gegenüber einer Social-Media-Plattform erfolgreich

Das BVerfG hat Entscheidungen von Fachgerichten aufgehoben, mit denen einer Politikerin der Partei DIE GRÜNEN die notwendige gerichtliche Anordnung zur Auskunft über Bestandsdaten gegenüber einer Social-Media-Plattform teilweise versagt wurden. Es geht um die Herausgabe personenbezogener Daten über mehrere Nutzer, die auf der Plattform Kommentare über die Politkerin getätigt haben. Die Fachgerichte haben unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts die verfassungsrechtlich erforderliche Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht unterlassen.

BVerfG v. 19.12.2021 - 1 BvR 1073/20
Hintergrund:
Nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a.F. (nunmehr § 21 Abs. 2 und 3 des Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetzes) durfte ein Diensteanbieter im Einzelfall Auskunft über die bei ihm vorhandenen Bestandsdaten erteilen, soweit dies zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen der Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte erforderlich ist. Für diese Auskunftserteilung war eine vorherige gerichtliche Anordnung erforderlich. Rechtswidrige Inhalte in diesem Sinne waren u.a. Inhalte, die den Tatbestand nach §§ 185 bis 187 StGB erfüllten und nicht gerechtfertigt waren.

Der Sachverhalt:
Auf einem Internetblog stellte dessen Inhaber Ende Oktober 2016 unter dem Titel "[Name der Beschwerdeführerin] findet Kinderficken ok, solange keine Gewalt im Spiel ist" das Bild der Beschwerdeführerin ein mit folgendem, scheinbar ein Zitat der Beschwerdeführerin darstellenden Text: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt."

Hintergrund war die im Jahr 2015 noch einmal aufgekommene Debatte betreffend die Haltung der Partei DIE GRÜNEN zur Pädophilie in den 1980er Jahren. So wurde im Mai 2015 u.a. über einen Zwischenruf der Beschwerdeführerin im Berliner Abgeordnetenhaus im Mai 1986 berichtet. Während eine Abgeordnete der Grünen über häusliche Gewalt sprach, stellte ein Abgeordneter der Regierungskoalition die Zwischenfrage, wie die Rednerin denn zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, wonach die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle. Anstelle der Rednerin rief laut Protokoll des Abgeordnetenhauses die Beschwerdeführerin: "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!"

Die Beschwerdeführerin nahm den Bloginhaber wegen seines ursprünglichen Eintrags auf Unterlassung in Anspruch und verlangte ein Schmerzensgeld. Daraufhin veröffentlichte der Bloginhaber Anfang 2019 auf seiner Seite auf der Social-Media-Plattform einen weiteren Text. Es folgt das Bild der Beschwerdeführerin mit dem aus dem ursprünglichen Blogbeitrag bekannten Text, der kein zutreffendes Zitat einer Äußerung der Beschwerdeführerin ist. Im April und Mai 2019 reagierten zahlreiche Nutzer der Social-Media-Plattform auf diese Veröffentlichung und kommentierten sie ihrerseits - soweit verfahrensgegenständlich - u.a. wie folgt:

"Pädophilen-Trulla"; "Die alte hat doch einen Dachschaden, die ist hol wie Schnittlauch man kann da nur noch"; "Mensch... was bist Du Krank im Kopf!!!"; "Die ist Geisteskrank"; "Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren"; "Sperrt diese kranke Frau weck sie weiß nicht mehr was sie redet"; "Die sind alle so krank im Kopf"; "Gehirn Amputiert"; "Kranke Frau" und "Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck.".

In der Folge begehrte die Beschwerdeführerin die Gestattung der Auskunftserteilung über die Bestandsdaten dieser Nutzer der Social-Media-Plattform. Das LG gestattete im Ergebnis die Beauskunftung von sechs Kommentaren. Das KG gestattete zusätzlich die Beauskunftung weiterer sechs Kommentare. Im Übrigen führte es aus, dass die Schwelle zum Straftatbestand des § 185 StGB nicht überschritten sei. Denn es liege kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts erreiche kein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des Kontexts lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Beschwerdeführerin erschienen. Die Beschwerdeführerin rügt u.a. die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

Die Verfassungsbeschwerde hatte vor dem BVerfG Erfolg.

Die Gründe:
Weichenstellend für die Prüfung einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts ist die Erfassung des Inhalts der verfahrensgegenständlichen Äußerungen. Auf der zutreffenden Sinnermittlung einer Äußerung aufbauend erfordert die Annahme einer Beleidigung nach § 185 StGB grundsätzlich eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die den betroffenen Rechtsgütern und Interessen, hier also der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre, drohen. Eine Abwägung ist nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn die streitgegenständliche Äußerung sich als Schmähung oder Schmähkritik, als Formalbeleidigung oder als Angriff auf die Menschenwürde darstellt. Liegt keine dieser eng umgrenzten Ausnahmekonstellationen vor, begründet dies bei Äußerungen, mit denen bestimmte Personen in ihrer Ehre herabgesetzt werden, kein Indiz für einen Vorrang der Meinungsfreiheit. Voraussetzung einer strafrechtlichen Sanktion ist dann allerdings eine grundrechtlich angeleitete Abwägung. Hierfür bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte.

Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht. Bei der Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist zudem davon auszugehen, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. In die Abwägung ist daher einzustellen, ob die Privatsphäre der Betroffenen oder ihr öffentliches Wirken mit seinen - unter Umständen weitreichenden - gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität der Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können.

Allerdings bleiben die Gesichtspunkte der Machtkritik und der Veranlassung durch vorherige eigene Wortmeldungen im Rahmen der öffentlichen Debatte in eine Abwägung eingebunden und erlauben nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern oder Politikern. Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht aus. Dabei liegt insbesondere unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch "soziale Netzwerke" im Internet ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern sowie Politikern über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist.

Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen Anforderungen nicht. Im Ausgangspunkt zutreffend erkennt das KG, dass es sich bei den noch verfahrensgegenständlichen Bezeichnungen der Beschwerdeführerin um erheblich ehrenrührige Herabsetzungen handelt. Das KG geht indes unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts davon aus, dass eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann vorliege, wenn die streitgegenständliche Äußerung "lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung" zu verstehen sei. Zwar deutet das KG die Notwendigkeit einer Abwägung an. Verfassungsrechtlich fehlerhaft knüpft es die Voraussetzungen der Beleidigung sodann jedoch an die Sonderform der Schmähkritik an. Eine Abwägung nimmt das KG aber nicht vor. Es legt wiederholt einen fehlerhaften, mit dem Persönlichkeitsrecht der von ehrenrührigen Äußerungen Betroffenen unvereinbaren Maßstab an, wenn es annimmt, eine strafrechtliche Relevanz erreiche eine Äußerung erst dann, wenn ihr diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine. Vorliegend hat sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetzt, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin.

Infolge fehlerhafter Maßstabsbildung mangelt es für alle verfahrensgegenständlichen Äußerungen an der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen im Rahmen der rechtlichen Würdigung. Die vom Fachgericht zum Teil begründungslos verwendete Behauptung, die Beschwerdeführerin müsse den Angriff als Politikerin im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, ersetzt die erforderliche Abwägung nicht.

Mehr zum Thema:

  • Kurzbeitrag: von Blumenthal, Niclas - OVG Schleswig-Holstein: Deaktivierung einer Facebook-Fanpage wegen Datenschutzverstößen (ITRB 2022, 2)
  • Kurzbeitrag: von Blumenthal, Niclas - OLG Stuttgart: Auskunftsansprüche bzgl. Hasskommentaren im Internet (ITRB 2021, 2)
  • Rechtsprechung: OLG München vom 8.12.2020, 18 U 5493/19 Pre - Klarnamenpflicht auf Facebook mit Anmerkung Rössel (ITRB 2021, 6)
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BVerfG PM Nr. 8 vom 2.2.2022
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