18.12.2023

Vom Insolvenzverwalter freigegebene selbständige Tätigkeit bei Krankheit des Schuldners

Übt der Schuldner eine vom Insolvenzverwalter freigegebene selbständige Tätigkeit tatsächlich aus, hat er die Gläubiger auch dann so zu stellen, als ob er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre, wenn er dem regulären Arbeitsmarkt wegen seines Alters, aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund besonderer berücksichtigungsfähiger Umstände nicht zur Verfügung steht oder stehen kann, sofern er aus der selbständigen Tätigkeit einen Gewinn erzielt. Bei der Festlegung der Höhe des sich nach dem fiktiven Nettoeinkommen zu bestimmenden Abführungsbetrags ist bei einem Schuldner, von dem wegen seines Alters, aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund besonderer berücksichtigungsfähiger Umstände eine Erwerbstätigkeit nicht verlangt werden kann, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Schuldner überobligatorisch selbständig tätig ist.

BGH v. 12.10.2023 - IX ZR 162/22
Der Sachverhalt:
Mit Beschluss vom 15.12.2015 eröffnete das AG das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beklagten und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter. Der seit dem Jahr 2003 an einer fortschreitenden Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) leidende Beklagte stellte mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens seine bisherige Tätigkeit als Rechtsanwalt ein und gab seine Anwaltszulassung zurück. In der Folgezeit war er freiberuflich als Schiedsrichter tätig. Mit Schreiben vom 7.3.2018 gab der Kläger gegenüber dem Beklagten dessen Vermögen aus seiner selbständigen Tätigkeit frei und forderte ihn auf, nach § 295 Abs. 2 InsO Zahlungen an die Insolvenzmasse zu leisten. Trotz mehrfacher Aufforderung durch den Kläger führte der Beklagte keine Beträge ab.

Der Kläger verlangt von dem Beklagten für die Zeit von März 2018 bis November 2019 Zahlung von insgesamt rd. 11.000 €. Der selbständig tätige Beklagte habe als angestellter Mediator einen monatlichen Bruttoverdienst von 2.500 € erwirtschaften können. Hieraus ergebe sich ein pfändbarer Betrag von rd. 530 € mtl. im Jahr 2018 und von rd. 540 € mtl. im Jahr 2019. Der Beklagte verlangt von dem Kläger widerklagend einen Betrag von rd. 26.000 € als Vergütung von Dienstleistungen, die er bei vier verschiedenen rechtlichen Angelegenheiten sowie der Kommunikation mit dem Kläger im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren erbracht haben will.

LG und OLG wiesen Klage und Widerklage ab. Das OLG ließ die Revision beschränkt auf die Klage zu. Der Kläger verfolgt mit seiner Revision seine Klageforderung weiter, der Beklagte mit der Anschlussrevision seine Forderung auf Vergütung von Dienstleistungen. Auf die Revision des Klägers hob der BGH Das Urteil des OLG auf (unter Verwerfung der Anschlussrevision des Beklagten), soweit zum Nachteil des Klägers entschieden worden ist, und verwies die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Dem Schuldner obliegt es, schon während des Insolvenzverfahrens zur Befriedigung seiner Gläubiger durch seine Einkünfte beizutragen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Schuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt oder einer abhängigen Beschäftigung nachgeht. Übt der Schuldner eine abhängige Beschäftigung aus, fällt der pfändbare Teil seines Arbeitseinkommens als Neuerwerb in die Masse; geht er einer selbständigen Tätigkeit nach, werden alle Einkünfte aus dieser Tätigkeit vom Insolvenzbeschlag erfasst. Ist die selbständige Tätigkeit vom Insolvenzverwalter gem. § 35 Abs. 2 InsO a.F. freigegeben, besteht gegenüber der Masse die Abführungspflicht entsprechend § 295 Abs. 2 InsO a.F. Nach der Regelung in § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO a.F. sollen den Gläubigern bei einer freigegebenen selbständigen Tätigkeit des Schuldners jedenfalls Mittel zur Befriedigung ihrer Forderungen in dem Umfang zufließen, wie sie ihnen bei einem abhängig beschäftigten Schuldner über § 35 Abs. 1 InsO oder bei Abgabe der Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 InsO zufließen würden.

Für einen Schuldner, der dem regulären Arbeitsmarkt wegen seines Alters, aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund besonderer berücksichtigungsfähiger Umstände nicht zur Verfügung steht oder stehen kann, hat dies zur Folge, dass er nicht gegen die Erwerbsobliegenheit verstößt, wenn er keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und daher auch keine Zahlungen leisten kann. Übt der Schuldner aber gleichwohl eine selbständige Tätigkeit aus, ist er mithin überobligatorisch tätig, entspricht es der Zielrichtung des § 35 InsO, die Gläubiger an diesen Einkünften und Gewinnen teilhaben zu lassen. Ebenso wie beim abhängig beschäftigten Schuldner, dessen Einkünfte nach § 35 Abs. 1 InsO unterschiedslos in die Insolvenzmasse fallen, soweit sie die Pfändungsfreigrenze übersteigen, soll auch ein selbständig tätiger Schuldner nach der Freigabe seiner Tätigkeit nicht bessergestellt werden. Es kommt danach allein darauf an, ob die Tätigkeit tatsächlich ausgeübt wird. So hat der Senat bereits entschieden, dass ein Schuldner, der eine vom Insolvenzverwalter freigegebene selbständige Tätigkeit ausübt, zu Zahlungen an die Insolvenzmasse nach Maßgabe eines angemessenen abhängigen Dienstverhältnisses verpflichtet sein kann, auch wenn er bereits das Renteneintrittsalter erreicht hat und wegen seines Alters nicht mehr verpflichtet ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Bei einem Schuldner, der aufgrund seines Gesundheitszustands keine abhängige Beschäftigung mehr finden kann, gilt nichts anderes als bei einem Schuldner, der aufgrund seines hohen Alters keine abhängige Beschäftigung mehr findet.

Zur klageweisen Geltendmachung seines Anspruchs nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO a.F. muss der Insolvenzverwalter die für seine Leistungsanträge erforderlichen Voraussetzungen, insbesondere die dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit und das anzunehmende fiktive Nettoeinkommen, darlegen und beweisen. Maßgeblich ist dabei ein fiktives Einkommen aus einem angemessenen, nicht notwendigerweise der selbständigen Tätigkeit entsprechenden Dienstverhältnis, welches dem Schuldner nach seiner Ausbildung und seinem beruflichen Werdegang möglich gewesen wäre. Diesen Anforderungen genügt der Vortrag des Klägers, der das fiktive Nettoeinkommen des Beklagten aus einer Tätigkeit als angestellter Mediator ermittelt hat. Diese Tätigkeit mag zwar mit einer selbständigen Tätigkeit als Schiedsrichter nicht in allen Punkten vergleichbar sein, sie wäre dem Beklagten aber unter Berücksichtigung seiner Ausbildung, seines beruflichen Werdegangs und der von ihm tatsächlich ausgeübten selbständigen Tätigkeit als Schiedsrichter möglich.

Bei der Festlegung der Höhe des sich nach dem fiktiven Nettoeinkommen zu bestimmenden Abführungsbetrags wird allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass der Beklagte überobligatorisch tätig ist, weil von ihm aufgrund seiner Erkrankung eine Erwerbstätigkeit nicht verlangt werden kann. So hat der Senat im Fall eines aufgrund seines Alters überobligatorisch selbständig tätigen Schuldners bei der Festlegung des dem Schuldner nach § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 850i Abs. 1 ZPO zu belassenden pfandfreien Betrags den Rechtsgedanken des § 850a Nr. 1 ZPO herangezogen. Der Schuldner kann auf diesem Weg dazu motiviert werden, eine überobligatorische Tätigkeit weiter auszuüben und zum eigenen und zum Wohl der Gläubiger Einkünfte zu erzielen. Müsste der Schuldner die Vergütung für die Mehrarbeit insgesamt an seine Gläubiger weiterleiten, hätte er keinen Anreiz eine Tätigkeit auszuüben, zu der er aufgrund seines Alters oder seiner Gesundheit nicht mehr verpflichtet wäre.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | InsO
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Ries in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 295 Obliegenheiten des Schuldners
Waltenberger in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

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