Voraussetzungen für eine zulässige Verdachtsberichterstattung
BGH v. 31.5.2022 - VI ZR 95/21Der Kläger zu 1) ist Zahnarzt in Köln. Im Jahr 2004 hatte er eine GmbH gegründet, deren Geschäftsführer er zunächst war. Der Kläger zu 2) war zwischen den Jahren 2011 und 2016 deren Geschäftsführer und der Kläger zu 1) zwischen den Jahren 2008 und 2016 deren Prokurist.
Im Jahr 2018 war gegen die Kläger ein Strafverfahren beim LG anhängig, über das die Beklagte auf ihrem Internetportal unter Nennung des Vornamens und des Anfangsbuchstabens des Nachnamens des Klägers zu 1) berichtete. Dort hieß es in der Headline:
"Gemeinsam mit Vater vor Gericht - Kölner Zahnarzt ein Millionenbetrüger?"
Hinsichtlich des Vorwurfs des Vortäuschens einer Straftat wurde das Verfahren gegen den Kläger zu 1) gem. § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Wegen Betrugs in zwei Fällen, Nötigung und Beihilfe zur Steuerhinterziehung in zwei Fällen wurde er rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.
Das LG hat die Beklagte - unter Abweisung der weitergehenden Klage - verurteilt, es zu unterlassen, über die Kläger im Zusammenhang mit dem gegen sie geführten Strafverfahren unter Beschreibung ihrer Person identifizierend zu berichten. Das OLG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, es zu unterlassen, über den Kläger zu 1) im Zusammenhang mit dem gegen ihn geführten Strafverfahren durch Angabe seines Namens und Berufs über den Vorwurf "Wegen Betrugs, Nötigung, Vortäuschung einer Straftat und Steuerhinterziehung stand der Doktor am Mittwoch vor dem Kölner Landgericht" und/oder "Außerdem soll [Kläger zu 1] einen Einbruch in seine Firma vorgetäuscht haben, um von einer Versicherung 122.000 € zu kassieren" identifizierend zu berichten und/oder berichten zu lassen, wenn dies geschieht wie in dem im Februar 2018 erschienenen Artikel.
Auf die Revision der Beklagten hat der BGH das Urteil des OLG aufgehoben und die Klage vollständig abgewiesen.
Gründe:
Der Kläger zu 1) hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Unterlassung der Berichterstattung (§ 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG).
Über den Unterlassungsantrag war aufgrund einer Abwägung des Rechts des Klägers zu 1) auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK verankerten Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit zu entscheiden. Dabei überwiegt das Schutzinteresse des Klägers zu 1) nicht die schutzwürdigen Interessen der Beklagten. Die Presse darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Berichterstattung verwiesen werden. Bei der Gewichtung des Informationsinteresses im Verhältnis zu dem kollidierenden Persönlichkeitsschutz kommt dem Gegenstand der Berichterstattung entscheidende Bedeutung zu.
Geht es um die Berichterstattung über eine Straftat, ist zu berücksichtigen, dass eine solche Tat zum Zeitgeschehen gehört, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien ist. Die Verletzung der Rechtsordnung begründet grundsätzlich ein anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näherer Information über Tat und Täter. Dieses wird umso stärker sein, je mehr sich die Tat in Begehungsweise, Schwere oder wegen anderer Besonderheiten von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt. Bei der Abwägung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit an einer Berichterstattung mit der damit zwangsläufig verbundenen Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Täters verdient für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten das Informationsinteresse im Allgemeinen den Vorrang.
Diese Maßstäbe gelten im Grundsatz auch für die Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten (§ 157 StPO). In diesem Verfahrensstadium ist nicht geklärt, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen. Im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung ist aber die Gefahr in den Blick zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder Durchführung eines Strafverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und deshalb im Fall einer späteren Einstellung des Verfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf "etwas hängenbleibt".
Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeits-wert" verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. Davon ausgehend war unter den Umständen des Streitfalls die Berichterstattung der Beklagten über den Kläger zu 1) von Anfang an zulässig.
Aufsatz
Steinvorth - Durchsetzung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger gegenüber marktbeherrschenden Plattformen (AfP 2022, 10)
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