05.06.2023

Wucherdarlehen: Gewandeltes Verständnis der Kreditwürdigkeitsprüfung

Ein Darlehensvertrag ist als wucherähnliches Geschäft nichtig, wenn u.a. zwischen den Leistungen des Darlehensgebers und den durch einseitige Vertragsgestaltung festgelegten Gegenleistungen des Darlehensnehmers ein auffälliges Missverhältnis besteht. Die §§ 505a ff. BGB gehen von einem gewandelten Verständnis der Kreditwürdigkeitsprüfung aus. Sie wird nicht mehr nur als eine dem Selbstschutz des Darlehensgebers bzw. dem öffentlichen (Solvabilitäts-)Interesse dienende, sondern auch als eine individualschützende zugunsten des Verbrauchers wirkende Pflicht, angesehen.

LG Erfurt v. 15.5.2023 - 9 O 101/23
Der Sachverhalt:
Die Klägerin hatte am 5.11.2017 mit dem Beklagten einen Darlehensvertrag über einen Kredit von netto 10.548 € mit einem Nominalzinssatz von 15,20 % p.a. abgeschlossen. Der effektive Jahreszins betrug 18,40 %. Einschließlich Zinsen und Kosten belief sich der Gesamtkredit auf 19.339 € und war mit 60 Monatsraten von je 322 € zurückzuzahlen.

Die Beantragung des Kredits erfolgte durch den Beklagten online über den Marktplatz von D. Dabei gab der Beklagte seine persönlichen Daten in die hierfür vorgesehene Antragsmaske ein. Danach war der Beklagte damals ledig, bezog als Arbeiter einen Nettolohn von monatlich 2.000 € und zahlte eine monatliche Miete von 700 €. Den eigentlichen Vertrag unterzeichnete der Beklagte mittels qualifizierter elektronischer Signatur. Dabei übermittelte er sein Ausweisdokument via Internet im Rahmen eines sog. Video-Ident-Verfahrens, einem VideoChat in Echtzeit. Im Anschluss daran wurde dem Beklagten ein Ident-Code an dessen Mobilfunknummer gesandt. Dieser Code wurde vom Beklagten zum Abschluss in die Antragsmaske eingegeben. Die Klägerin nahm den Darlehensantrag an und zahlte das Darlehen wie vereinbart an den Beklagten aus.

Der Beklagte hielt die Zahlungsvereinbarung nicht ein. Nachdem er mit zwei aufeinanderfolgenden Monatsraten und 5 % des Nennbetrages des Kredits in Verzug geraten war, mahnte die Bank ihn zunächst ab und kündigte den Darlehensvertrag bald darauf. Gleichzeitig wurde der Beklagte zur Zahlung der noch offenen Kreditforderung i.H.v. 11.548 € aufgefordert.

Das LG hat die Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Der Klägerin stand der geltend gemachte Anspruch auf Rückführung des Darlehens (§ 488 Abs. 1 S.2 BGB) nicht zu, weil der Darlehensvertrag gem. § 138 Abs. 2 BGB nichtig war.

Ein Darlehensvertrag ist als wucherähnliches Geschäft nichtig, wenn zwischen den Leistungen des Darlehensgebers und den durch einseitige Vertragsgestaltung festgelegten Gegenleistungen des Darlehensnehmers ein auffälliges Missverhältnis besteht und der Darlehensgeber die wirtschaftlich schwächere Lage des Darlehensnehmers und dessen Unterlegenheit bei der Festlegung der Darlehensbedingungen bewusst zu seinem Vorteil ausnutzt. Dem steht es gleich, wenn sich der Darlehensgeber als objektiv sittenwidrig Handelnder zumindest leichtfertig der Einsicht verschließt, dass sich der Darlehensnehmer nur aufgrund seiner wirtschaftlich schwächeren Lage auf die ihn beschwerenden Darlehensbedingungen einlässt.

Inhalt und Zweck des Darlehensgeschäfts und der sonstigen Geschäftsumstände sind zusammenfassend zu würdigen. Für diese Gesamtwürdigung sind die vertraglich festgelegten Leistungen und Gegenleistungen sowie die sonstigen vertraglichen Regelungen - auch die der Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Darlehensgebers, soweit diese wirksam sind - heranzuziehen. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Verhältnis zwischen dem Darlehensentgelt, dem Zins, und der Hauptleistung des Darlehensgebers, der Übertragung der Kapitalnutzungsmöglichkeit auf Zeit, zu.

Für die Beurteilung ist insofern regelmäßig ein Wertvergleich zwischen den gezahlten Zinsen und den marktüblichen Zinsen vorzunehmen. Für den Wertvergleich kommt es entscheidend darauf an, welchen Preis ein Kreditnehmer für einen vergleichbaren Kredit bei der Mehrzahl der übrigen Anbieter hätte zahlen müssen. Nachdem die Deutsche Bundesbank den Schwerpunktzins nicht mehr veröffentlicht, kann grundsätzlich die EWU-Zinsstatistik als Ausgangspunkt des Zinsvergleichs herangezogen werden, möglicherweise mit Zu- und Abschlägen, weil es noch keinen europaweiten Konsumentenkreditmarkt gibt. Ein auffälliges Missverhältnis ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Vertragszins den marktüblichen Effektivzins relativ um 100 % oder absolut um 12 % übersteigt (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH-Urt. v. 13.3.1990 - XI ZR 252/89. Ein solches auffälliges Missverhältnis war vorliegend anzunehmen.

Die §§ 505a ff. BGB gehen  von einem gewandelten Verständnis der Kreditwürdigkeitsprüfung aus. Sie wird nicht mehr nur als eine dem Selbstschutz des Darlehensgebers bzw. dem öffentlichen (Solvabilitäts-)Interesse dienende, sondern auch als eine individualschützende zugunsten des Verbrauchers wirkende Pflicht, angesehen (BT-Drs 18/5922 vom 7.9.2015, S. 96). In der Sache verbirgt sich dahinter das Bestreben des Gesetzgebers, die Vergabe von Krediten an Personen mit unzureichendem finanziellen Leistungsvermögen möglichst zu unterbinden. Es handelt es sich um die gesetzliche Ausprägung des Prinzips der verantwortlichen Kreditvergabe. Die Kreditwürdigkeitsprüfung des Marktplatzes D. sah lediglich vor, dass ein Kunde zur Glaubhaftmachung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nur "optional" seine Kontoauszüge der letzten 120 Tage zur Verfügung stellen konnte. Die Klägerin stellte solchen Darlehensnehmern, deren Angaben zur Kreditwürdigkeit möglicherweise nicht vollständig waren und die sie auch nicht glaubhaft machen mussten, ein Darlehen nur gegen Zahlung eines höheren Sollzinses und Zahlung einer hohen Restkreditversicherung zur Verfügung.

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