16.08.2023

Zum rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (Sattelunterseite II)

Die Sichtbarkeit eines Bauelements (hier: Fahrradsattel) eines komplexen Erzeugnisses (hier: Fahrrad) bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer i.S.v. §§ 4, 1 Nr. 4 DesignG (Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG) ist aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen. Die bestimmungsgemäße Verwendung umfasst die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

BGH v. 15.6.2023 - I ZB 31/20
Der Sachverhalt:
Für die Designinhaberin ist beim Deutschen Patent- und Markenamt seit dem 3.11.2011 das am 9.9.2011 angemeldete Design Nr. 40 2011 004 383-0001 für die Erzeugnisse "Sättel für Fahrräder oder Motorräder" mit einer Darstellung eingetragen, die die Unterseite eines Sattels zeigt. Die Antragstellerin hat am 27.7.2016 die Feststellung der Nichtigkeit des Designs beantragt. Sie machte geltend, dem Design fehlten die Schutzvoraussetzungen der Neuheit und Eigenart. Vor allem sei es nach § 4 DesignG vom Schutz ausgeschlossen, weil es als Bauelement der komplexen Erzeugnisse "Fahrrad" und "Motorrad" bei deren bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sei.

Die Designabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts hat den Antrag zurückgewiesen. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat das Bundespatentgericht die Nichtigkeit des Designs festgestellt. Auf die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Designinhaberin hat der Senat dem EuGH Fragen zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen zur Vorabentscheidung vorgelegt (Beschl. v. 1.7.2021 - I ZB 31/20 - Sattelunterseite I).

Der EuGH hat diese Fragen wie folgt beantwortet (EuGH, Urt. v. 16.2.2023 - C-472/21 - Monz Handelsgesellschaft International):

Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen ist dahin auszulegen, dass das Erfordernis der "Sichtbarkeit", das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt. Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner "bestimmungsgemäßen Verwendung" durch den Endbenutzer aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei diese bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

Daraufhin hat der Senat des Beschluss des Bundespatentgerichts aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Gründe:
Mit der vom Bundespatentgericht gegebenen Begründung konnte die Nichtigkeit des angegriffenen Designs nicht festgestellt werden.

Die Sichtbarkeit eines Bauelements (hier: Fahrradsattel) eines komplexen Erzeugnisses (hier: Fahrrad) bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer im Sinne von §§ 4, 1 Nr. 4 DesignG (Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG) ist aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen. Die bestimmungsgemäße Verwendung umfasst die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses (hier: Benutzung als Fortbewegungsmittel) vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat (hier: Aufbewahrung und Transport), mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

Dies entspricht der Auslegung des EuGH. Er hat sie zum einen daraus hergeleitet, dass der Musterschutz sich gem. Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/71/EG auf die Erscheinungsform eines Erzeugnisses bezieht und sich die Erscheinungsform eines Bauelements i.S.d. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG ausschließlich aus dessen sichtbaren Merkmalen ergibt. Zum anderen muss nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG, dem § 4 DesignG weitgehend entspricht, das in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement "bei ... bestimmungsgemäßer Verwendung" dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben, um rechtlichen Musterschutz genießen zu können.

Die Auslegung des Begriffs der bestimmungsgemäßen Verwendung hatte das Bundespatentgericht jedoch rechtsfehlerhaft auf Handlungen des Endbenutzers in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfolgung des vom Hersteller definierten (Haupt-)Verwendungszwecks des komplexen Erzeugnisses verengt. Nach der EuGH-Rechtsprechung ist von einem weiten Begriffsverständnis auszugehen, das nicht allein auf die Zweckdefinition des Herstellers beschränkt ist, sondern alle üblichen Verwendungen mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur des komplexen Erzeugnisses umfasst. Danach können im Streitfall insbesondere mit dem Transport oder der Aufbewahrung eines Fahrrads verbundene Handlungen unter dessen bestimmungsgemäße Verwendung fallen.

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