Zur Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes hinsichtlich der Befolgung konkreter Einzelanweisung durch zuverlässige Kanzleikräfte
BGH 17.8.2011, I ZB 21/11Das LG wies die u.a. auf Unterlassung gerichtete Klage mit Urteil vom 2.12.2010 ab. Die Klägerin legte gegen das ihr am 3.12.2010 zugestellte Urteil mit versehentlich an das LG adressiertem Schriftsatz vom 30.12.2010 Berufung ein. Der Schriftsatz ging am 30.12.2010 bei der Gemeinsamen Annahmestelle beim AG ein, die auch für die Entgegennahme von an das LG und das OLG gerichteten Schriftstücken zuständig ist. Der Vorsitzende der Zivilkammer des LG leitete die Berufungsschrift mit Verfügung vom 4.1.2011 an das OLG weiter, wo sie am 6.1.2011 einging. Die Geschäftsstelle des OLG teilte der Klägerin mit Schreiben vom 7.1.2011 außer dem Aktenzeichen des Berufungsverfahrens auch mit, dass die Berufung dort am 30.12.2010 eingegangen sei.
Demgegenüber teilte der Vorsitzende des Berufungssenats der Klägerin mit Schreiben vom 17.1.2011 mit, dass der Senat die Verwerfung der Berufung als unzulässig beabsichtige, weil die Berufungsschrift beim OLG erst am 6.1.2011 und damit nach Ablauf der Berufungsfrist eingegangen sei. Die Klägerin beantragte daraufhin am 31.1.2011 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Zur Begründung trug sie vor, die stets gründlich und ordentlich arbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte W habe beim auftragsgemäßen Erstellen der Berufungsschrift am 30.12.2010 als Empfänger versehentlich das LG eingesetzt.
Rechtsanwalt Dr. S habe diesen Fehler bemerkt und W deshalb angewiesen, die erste Seite des Schriftsatzes vor seiner Einreichung bei Gericht gegen eine Fassung mit dem OLG als Adressat auszutauschen. Im Vertrauen darauf, dass W dieser Anweisung Folge leisten werde, habe er den Schriftsatz auf der zweiten Seite bereits unterschrieben. W habe die ihr erteilte Anweisung in der Hektik der Erstellung verschiedener Schriftsätze vor Jahresende allerdings vergessen und die von S bereits unterschriebene Berufungsschrift daher in ihrer ursprünglichen Form am 30.12.2010 bei der Gemeinsamen Annahmestelle abgegeben.
Das OLG wies den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin zurück und verwarf deren Berufung als unzulässig. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Klägerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Das OLG hat der Klägerin die innerhalb der Frist des § 234 ZPO beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht versagt. Die Versäumung der Berufungsfrist beruht auf einem Verschulden des Rechtsanwalts S, das sich die Klägerin gem. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
Bei der Frage, ob einen Prozessbevollmächtigten ein entsprechendes Verschulden trifft, ist Verschuldensmaßstab die von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernde übliche Sorgfalt. Die Beachtung der Sorgfaltspflicht muss dem Rechtsanwalt im Einzelfall auch zumutbar sein, da andernfalls das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz und zumutbaren Zugang zu den Gerichten verletzt wird. Dementsprechend fehlt es grundsätzlich an einem der Partei zuzurechnenden Verschulden ihres Anwalts an der Fristversäumung, wenn der Anwalt einer Kanzleikraft, die sich bislang als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung erteilt, die bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte; ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine bislang zuverlässige Kanzleikraft eine konkrete Einzelanweisung befolgt.
Das OLG ist von diesen Grundsätzen ausgegangen und hat sie auf den Streitfall auch nicht in einer Weise angewandt, bei der die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts überspannt werden. Es hat ein Verschulden des S mit Recht bereits darin erblickt, dass dieser die erkanntermaßen fehladressierte Berufungsschrift unterzeichnet hat, ohne sie dabei entweder selbst handschriftlich zu korrigieren oder immerhin zusätzliche Maßnahmen zu treffen bzw. zu veranlassen, um sicherzustellen, dass W die ihr von ihm zum Zwecke der Korrektur des Fehlers erteilte Einzelweisung tatsächlich befolgte.
Die Rechtsbeschwerde weist in diesem Zusammenhang allerdings mit Recht darauf hin, dass der oben dargestellte Vertrauensgrundsatz nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH nur dann nicht gilt, wenn eine Rechtsmittelschrift mehrere für die Zulässigkeit des Rechtsmittels relevante Fehler aufweist. Im Streitfall war diese Voraussetzung nicht erfüllt; vielmehr lag allein ein einziger (Flüchtigkeits)Fehler bei der Adressierung vor, der zwar gravierend, aber nach seiner Entdeckung evident und bereits durch eine handschriftliche Korrektur der ersten Seite des einzureichenden Schriftsatzes und/oder durch den (nachfolgenden) Austausch dieser Seite auch unschwer zu korrigieren war.
Die für S insoweit gegebene Möglichkeit, den Fehler bei der Adressierung der Berufungsschrift nach seiner Entdeckung bereits selbst ohne jeden weiteren Aufwand durch eine entsprechende handschriftliche Korrektur zu beseitigen, setzte hier allerdings den Vertrauensgrundsatz außer Kraft. Dieser Grundsatz soll verhindern, dass das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz und zumutbaren Zugang zu den Gerichten verletzt wird. Für seine Anwendung ist daher kein Raum, wenn der Rechtsanwalt von der ihm selbst ohne weiteres möglichen Beseitigung eines erkannten Fehlers absieht und stattdessen darauf vertraut, dass sein Personal den Fehler aufgrund einer erteilten Einzelweisung beseitigen wird.
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