Zur Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens über das freigegebene Vermögen des Schuldners aus selbständiger Tätigkeit
BGH 9.6.2011, IX ZB 175/10Am 10.4.2007 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. Der Schuldner war und ist als selbständiger Steuerberater tätig. Mit Schreiben vom 18.7.2008 gab der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit des Schuldners frei. Mit Schreiben vom 15.6.2010 beantragte die weitere Beteiligte (fortan: Gläubigerin) wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge und Pauschsteuern im Zeitraum 1.2.2009 bis 31.5. 2010 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das freigegebene Vermögen des Schuldners.
Das AG - Insolvenzgericht - wies den Antrag als unzulässig ab. Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin zum LG blieb erfolglos. Auf die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin hob der BGH die Beschlüsse von AG und LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurück.
Die Gründe:
Der Antrag auf Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners kann mit der gegebenen Begründung nicht abgewiesen werden.
Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH haben die Neugläubiger auch dann, wenn der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbständig tätige Schuldner die daraus herrührenden Verbindlichkeiten nicht erfüllen kann, grundsätzlich kein rechtlich geschütztes Interesse an der Eröffnung eines weiteren Insolvenzverfahrens. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch fest. Sie betrifft jedoch nicht den Sonderfall des § 35 Abs. 2 InsO, wonach der Insolvenzverwalter erklären kann, dass Vermögen aus einer ausgeübten oder beabsichtigten selbständigen Tätigkeit des Schuldners nicht zur Insolvenzmasse gehört und Ansprüche aus dieser Tätigkeit nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können.
Die Vorschrift ist eingeführt worden, um dem Insolvenzschuldner die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit außerhalb des Insolvenzverfahrens zu eröffnen. Es handelt sich um eine Art Freigabe des Vermögens, welches der gewerblichen Tätigkeit gewidmet ist, einschließlich der dazu gehörenden Vertragsverhältnisse. Die Einkünfte, welche der Schuldner von der Erklärung des Verwalters an im Rahmen dieser Tätigkeit erzielt, stehen den Gläubigern, deren Forderungen erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, als Haftungsmasse zur Verfügung. Gibt es eine Haftungsmasse, ist auch ein gesondertes zweites Insolvenzverfahren, das nur der Befriedigung der Neugläubiger dient, rechtlich möglich.
Durchgreifende systematische Bedenken gegen ein Zweitverfahren über das gem. § 35 Abs. 2 InsO insolvenzfreie Vermögen eines Verfahrensschuldners bestehen nicht: Die Vorschrift des § 295 Abs. 2 InsO, die gem. § 35 Abs. 2 S. 2 InsO nach der "Freigabe" der selbständigen Tätigkeit des Schuldners entsprechend anwendbar ist, steht einem Zweitverfahren nicht entgegen, und auch die Vorschrift des § 89 Abs. 1 InsO verbietet nicht die Anordnung eines weiteren Insolvenzverfahrens über das freigegebene Vermögen des Schuldners.
Die Eröffnung eines Zweitverfahrens vor Aufhebung des eröffneten Insolvenzverfahrens widerspricht zwar dem Grundgedanken der InsO, dass über das Vermögen einer Person nicht mehr als ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos. Die InsO kennt durchaus Sonderinsolvenzverfahren über Vermögensmassen, die nicht allen Gläubigern gleichermaßen haften. Da eine Prüfung der Zulässigkeit des Eröffnungsantrags sowie der Eröffnungsvoraussetzungen bislang noch nicht stattgefunden hat, war die Sache an das Insolvenzgericht zurückzuverweisen.
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