21.03.2025

Zur Prüfung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bei Selbständigen

Im Rahmen der Prüfung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wird bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

BGH v. 6.2.2025 - IX ZB 35/22
Der Sachverhalt:
Am 18.8.2020 beantragte das Finanzamt (Gläubiger) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners. Im Zeitpunkt der Antragstellung unterhielt der Schuldner Wohnsitze in Berlin, Monaco, Los Angeles und auf der französischen Insel Saint-Barthélemy. Er war Vorsitzender des Aufsichtsrats der L. AG, einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Mainz. Sein Vermögen bestand in einem Bankguthaben in Monaco sowie in Beteiligungen an Gesellschaften monegassischen Rechts, die in Deutschland Kontoguthaben, ein Wertpapierdepot und Gesellschaftsbeteiligungen hielten.

Das AG - Insolvenzgericht - wies den Antrag wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit als unzulässig zurück. Auf die sofortige Beschwerde des Gläubigers hob das LG den Beschluss auf und verwies die Sache an das AG zurück. Mit seiner Rechtsbeschwerde will der Schuldner die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde des Gläubigers erreichen.

Der Senat hat dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 i.V.m Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?

2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?

3. Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass bei einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?

Der EuGH hat die erste und die zweite Frage wie folgt beantwortet (EuGH v. 19.9.2024 - C-501/23, ZIP 2024, 2355):

1. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass der Begriff "Hauptniederlassung" einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 EuInsVO definierten Begriff "Niederlassung" entspricht.

2. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners hob der BGH den Beschluss des LG nunmehr auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zu beurteilen. Bei grenzüberschreitenden Bezügen gilt die genannte Vorschrift unabhängig davon, ob Mitglied- oder Drittstaaten betroffen sind. Gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO sind die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner im Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, wird gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist. Bei allen anderen natürlichen Personen wird gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist.

Rechtsfehlerhaft meint das LG, dass der Schuldner gem. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO im maßgeblichen Zeitpunkt des gegen ihn gestellten Insolvenzantrags aufgrund seiner selbständigen gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeit den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in Deutschland hatte. Ob die Tätigkeit des Schuldners als Vorsitzender des Aufsichtsrats der L. AG eine selbständige Tätigkeit in diesem Sinn darstellt, lässt sich auf der Grundlage der Feststellungen des LG nicht abschließend beurteilen. Rechtlich zutreffend ist der Ausgangspunkt des LG, wonach die internationale Zuständigkeit zunächst anhand der Vermutungstatbestände gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 bis 4 EuInsVO zu prüfen ist. Eine Prüfung der internationalen Zuständigkeit nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO ist daher im Regelfall nur erheblich, um zu prüfen, ob der Beweis des Gegenteils für den jeweiligen Vermutungstatbestand gegeben ist. Weiter tragen die Feststellungen des LG die Annahme, dass i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO Hauptniederlassung einer selbständigen Tätigkeit des Schuldners als Vorsitzender des Aufsichtsrats der L. AG der Sitz der Gesellschaft in Mainz ist. Dem steht nicht entgegen, dass der Schuldner für seine Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender weder Personal noch Vermögenswerte einsetzen musste.

Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass der Begriff "Hauptniederlassung" einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 EuInsVO definierten Begriff "Niederlassung" entspricht, der voraussetzt, dass für die Tätigkeit Personal und Vermögenswerte erforderlich sind (vgl. EuGH s.o., ZIP 2024, 2355). Zur Begründung hat der EuGH ausgeführt, dass allein in der deutschen Sprachfassung der Verordnung eine sprachliche Nähe zwischen den Begriffen "Niederlassung" und "Hauptniederlassung" besteht. In anderen Sprachfassungen der Verordnung werden unterschiedliche Begriffe verwendet. Der EuGH hat weiterhin entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO dahin auszulegen ist, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

Hauptniederlassung ist nach den vom LG getroffenen Feststellungen der Sitz der Gesellschaft in Mainz. Dort nimmt der Schuldner regelmäßig an Aufsichtsratssitzungen teil. Diese Feststellungen weisen keine Rechtsfehler auf. Der Einwand der Rechtsbeschwerde, wonach der Schuldner seine Tätigkeit als Aufsichtsrat ganz überwiegend an seinem Wohnsitz in Monaco ausübe, wo er Telefonate mit dem Vorstand und Aufsichtsratssitzungen per Videokonferenz geführt, sich mit Unterlagen der Gesellschaft befasst und sonstige im Zusammenhang mit der Gesellschaft stehende Tätigkeiten ausgeübt habe, stellt die Folgerung des LG nicht in Frage. Für die Bestimmung der Hauptniederlassung ist - nicht anders als für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners - besonders zu berücksichtigen, welchen Ort die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, an dem der Schuldner seiner selbständigen freiberuflichen Tätigkeit nachgeht. Dies ist vorliegend der Sitz der Gesellschaft.

Jedoch genügen die Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht, um eine selbständige berufliche oder gewerbliche Tätigkeit i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO bejahen zu können. Ebensowenig tragen die Feststellungen, mit denen das LG die Voraussetzungen eines Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO bejaht hat.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung
Zum Begriff der "Hauptniederlassung" einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person in Art. 3 Abs. 1 EuInsVO
EuGH vom 19.09.2024 - C-501/23
Bernd Meyer-Löwy, ZIP 2024, 2455
ZIP0071998

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