Zur Unwirksamkeit der Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts
BGH v. 20.5.2021 - X ZR 62/19
Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für Deutschland erteilten europäischen Patents 1 950 349 (Streitpatents), das im Januar 2008 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität aus Januar 2007 angemeldet worden ist und einen Bodenbelag betrifft. Insbesondere betrifft das Streitpatent ein Verbindungselement für Bodenbelagssegmente. Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in drei geänderten Fassungen verteidigt.
Das Patentgericht hat das Streitpatent unter Abweisung der Klage im Übrigen für nichtig erklärt, soweit sein Gegenstand über die mit dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1 verteidigte, aus dem Tenor des angefochtenen Urteils ersichtliche Fassung hinausgeht. Dagegen wandte sich die Berufung der Klägerin, die weiterhin die vollständige Nichtigerklärung begehrte. Die Beklagte trat dem Rechtsmittel entgegen. Der BGH hat das Streitpatent mit Wirkung für Deutschland für nichtig erklärt.
Gründe:
Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des angefochtenen Urteils ist nicht neu.
Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist danach erforderlich, dass der Fachmann die im Anspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen "unmittelbar und eindeutig" als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann. Zu ermitteln ist mithin, was der Fachmann der Vorveröffentlichung als den Inhalt der gegebenen allgemeinen Lehre entnimmt, wobei das Verständnis des Fachmanns zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbegründenden Patentanmeldung maßgeblich ist.
Offenbart kann auch dasjenige sein, was im Patentanspruch und in der Beschreibung der Voranmeldung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns nach seinem allgemeinen Fachwissen jedoch für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern "mitgelesen" wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt.
Nach diesen Grundsätzen nimmt das Streitpatent die Priorität der S3 nicht wirksam in Anspruch. Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents in der Fassung des angefochtenen Urteils ist in S3 nicht als zur angemeldeten Erfindung gehörend offenbart. Die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts ist nicht wirksam, wenn der Gegenstand der späteren Anmeldung aus dem Inhalt der früheren Anmeldung nur aufgrund eigenständiger Überlegungen des Fachmanns hergeleitet werden kann. Hierbei ist unerheblich, ob es naheliegend war, solche Überlegungen anzustellen.
BGH online
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für Deutschland erteilten europäischen Patents 1 950 349 (Streitpatents), das im Januar 2008 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität aus Januar 2007 angemeldet worden ist und einen Bodenbelag betrifft. Insbesondere betrifft das Streitpatent ein Verbindungselement für Bodenbelagssegmente. Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in drei geänderten Fassungen verteidigt.
Das Patentgericht hat das Streitpatent unter Abweisung der Klage im Übrigen für nichtig erklärt, soweit sein Gegenstand über die mit dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1 verteidigte, aus dem Tenor des angefochtenen Urteils ersichtliche Fassung hinausgeht. Dagegen wandte sich die Berufung der Klägerin, die weiterhin die vollständige Nichtigerklärung begehrte. Die Beklagte trat dem Rechtsmittel entgegen. Der BGH hat das Streitpatent mit Wirkung für Deutschland für nichtig erklärt.
Gründe:
Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des angefochtenen Urteils ist nicht neu.
Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist danach erforderlich, dass der Fachmann die im Anspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen "unmittelbar und eindeutig" als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann. Zu ermitteln ist mithin, was der Fachmann der Vorveröffentlichung als den Inhalt der gegebenen allgemeinen Lehre entnimmt, wobei das Verständnis des Fachmanns zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbegründenden Patentanmeldung maßgeblich ist.
Offenbart kann auch dasjenige sein, was im Patentanspruch und in der Beschreibung der Voranmeldung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns nach seinem allgemeinen Fachwissen jedoch für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern "mitgelesen" wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt.
Nach diesen Grundsätzen nimmt das Streitpatent die Priorität der S3 nicht wirksam in Anspruch. Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents in der Fassung des angefochtenen Urteils ist in S3 nicht als zur angemeldeten Erfindung gehörend offenbart. Die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts ist nicht wirksam, wenn der Gegenstand der späteren Anmeldung aus dem Inhalt der früheren Anmeldung nur aufgrund eigenständiger Überlegungen des Fachmanns hergeleitet werden kann. Hierbei ist unerheblich, ob es naheliegend war, solche Überlegungen anzustellen.