22.07.2011

Zur Zulassung neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Berufungsverfahren (hier: eine durch Abtretung erworbene Rechtsposition)

Es liegt grundsätzlich keine Nachlässigkeit i.S.v. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO vor, wenn ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung entstanden ist. Stützt der Beklagte eine Einwendung gegen den Klageanspruch auf eine Rechtsposition, die er im Wege der Abtretung erworben hat, so ist das entsprechende Verteidigungsmittel erst mit dem Erwerb der Rechtsposition entstanden.

BGH 17.5.2011, X ZR 77/10
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen Patentverletzung in Anspruch. Die Klägerin ist Inhaberin einer ausschließlichen Lizenz an dem mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patent 1 700 812 (Klagepatent), das einen Treppenlift mit einer Stabilisierungsvorrichtung betrifft. Das Verfahren betrifft Patentanspruch 1 des Klagepatents.

Die Beklagte zu 1), deren frühere Geschäftsführerin und nunmehrige Liquidatorin die Beklagte zu 2) ist, hat unter der Modellbezeichnung "A" Treppenlifte vertrieben, bei denen nach Auffassung der Klägerin alle Merkmale von Patentanspruch 1 wortsinngemäß verwirklicht sind. Die Beklagten haben bestritten, solche Lifte nach der Veröffentlichung der Anmeldung des Klagepatents vertrieben zu haben.

Das LG gab der Klage antragsgemäß statt. In der Berufungsinstanz erhoben die Beklagten zusätzlich den Einwand der widerrechtlichen Entnahme. Diesen Einwand stützen sie auf Rechte am Gegenstand des Klagepatents, die der Ehemann der Beklagten zu 2), der mit 10 Prozent am Stammkapital der Beklagten zu 1) beteiligt ist und deren Geschäfte faktisch geführt hat, nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils an die Beklagte zu 2) abgetreten hat. Das OLG wies die Berufung der Beklagten zurück. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat den Vortrag der Beklagten zu einer widerrechtlichen Entnahme zu Unrecht gem. § 531 ZPO unberücksichtigt gelassen und damit dem Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt.

Die erstmalige Geltendmachung des Einwandes der widerrechtlichen Entnahme beruht nicht auf Nachlässigkeit der Beklagten. Nachlässigkeit kann in der Regel nicht angenommen werden, wenn eine Partei erst aufgrund einer während des Berufungsverfahrens erfolgten Abtretung in der Lage war, ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Aussicht auf Erfolg geltend zu machen. Nachlässigkeit i.S.v. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO ist grundsätzlich zu verneinen, wenn ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung entstanden ist.

Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Die Beklagten waren erst aufgrund der in zweiter Instanz erfolgten Abtretung rechtlich in der Lage, aus der von ihnen behaupteten widerrechtlichen Entnahme Einwendungen gegen die Klageansprüche abzuleiten. Zwar gibt es Ausnahmen von diesem Grundsatz, wenn ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel auf einen abgeschlossenen Lebenssachverhalt gestützt wird und die Möglichkeit, es mit Aussicht auf Erfolg geltend zu machen, nur noch davon abhängt, dass die Partei ein ihr zustehendes materielles Gestaltungsrecht ausübt, wenn also der Eintritt einer bestimmten Rechtsfolge nur noch vom Wollen des Schuldners abhängt.

Im Streitfall hing die Möglichkeit zur Geltendmachung des Einwandes aber eben nicht allein vom Willen der Beklagten ab. Zur Abtretung der geltend gemachten Rechte am Gegenstand des Klagepatents bedurfte es vielmehr der Mitwirkung des Ehemannes der Beklagten zu 2). In derartigen Konstellationen erschiene es verfehlt, Nachlässigkeit schon deshalb zu bejahen, weil sich eine Partei nicht rechtzeitig um den Erwerb einer bestimmten Rechtsposition im Wege der Abtretung bemüht hat. Es kann demnach grundsätzlich nicht als nachlässig i.S.v. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO angesehen werden, wenn eine Partei von der Möglichkeit, eine zur erfolgversprechenden Geltendmachung eines Angriffs- oder Verteidigungsmittels erforderliche Rechtsposition durch Abtretung zu erwerben, nicht unverzüglich Gebrauch gemacht hat.

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