Anpassung der Risikoprognose nach Sturzhäufung gehört zu den Pflichten von Pflegeheimen
LG Lübeck v. 5.12.2024 - 10 O 208/23
Der Sachverhalt:
Die Beklagte betreibt eine Pflegeeinrichtung. Der Kläger ist der Sohn und Erbe der verstorbenen 98-jährigen Erblasserin. Seit 2017 war ihr wegen Demenz der Pflegegrad 4 zugeordnet. Am 20.5.2019 hatte der Kläger für die Erblasserin einen Vertrag über Wohnraum mit Pflege- und Betreuungsdienstleistungen in vollstationärer Behandlung in der Pflegeeinrichtung der Beklagten abgeschlossen. Während der Aufenthaltszeit dokumentierte das Pflegepersonal zehn Sturzereignisse der Erblasserin in Sturzereignisprotokollen. Am 27.7.2019 wurde die Erblasserin nach mind. drei weiteren Stürzen in eine Klinik gebracht, wo sie am 29.7.2019 verstarb.
Der Kläger war der Auffassung, die Beklagte sei verpflichtet gewesen, Vorsorge zur Verhinderung von Stürzen zu treffen. Sie hätte bereits nach den ersten Stürzen einen richterlichen Beschluss zur Fixierung erwirken müssen. Dadurch wären das Hochstellen des Bettgitters, eine Fixierung im Rollstuhl o.ä. als sturzvorbeugende Maßnahmen möglich gewesen. Der Kläger beantragte, die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld von mind. 20.000 € zu zahlen.
Die Beklagte behauptete, durch das Pflegepersonal seien bei der Erblasserin halbstündige Kontrollgänge durchgeführt worden. Alle zwei bis drei Stunden seien Toilettengänge durchgeführt worden. Wege mit dem Rollator seien begleitend unterstützt worden. In der Nacht seien alle zwei Stunden Kontrollgänge durchgeführt worden. Weitere Maßnahmen zur Sturzprophylaxe seien bereits erarbeitet worden.
Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben.
Die Gründe:
Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 3.000 € aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Heimvertrag i.V.m. § 1922 Abs. 1 BGB zu.
Der Erblasserin standen Schadensersatzansprüche aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Heimvertrag aufgrund von zurechenbaren Verstößen gegen aus dem Heimvertrag erwachsene Obhutspflichten gegen die Beklagte zu. Die Pflichten des Heimträgers sind begrenzt auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab müssen das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare sein. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind.
Letztlich ist aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden, welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen. Im Falle einer schuldhaften Pflichtverletzung können sowohl schuldrechtliche als auch deliktische Schadensersatzanspruch begründet sein.
Die Beklagte hatte auf die mind. 13 Stürze der Erblasserin nicht durch Anwendung konkreter Sicherungsmaßnahmen in Folge der Anpassung der Risikoprognose reagiert. Zwar konnte zu ihren Gunsten unterstellt werden, dass sie aufgrund des ersten Sturzereignisses am 26.5.2019 das Gespräch mit dem Kläger gesucht hatte. Doch nach dem dritten Sturzereignis am 15.6.2019, bei der sich die Erblasserin erstmals eine Platzwunde zugezogen hatte und in die Klinik gebracht wurde, sowie nach dem vierten Sturz am 16.6.2019, bei der die Erblasserin über Schmerzen geklagt hatte und erneut in die Klinik gebracht wurde, war das Pflegepersonal der Beklagten gehalten, die Risikoprognose anzupassen.
Aufgrund der bei der Erblasserin verursachten Körperverletzungen stand ihr ein Schmerzensgeldanspruch i.H.v. 3.000 € zu. Ein weitergehender Schadensersatzanspruch war abzulehnen. Die Art der Verletzungen sprach im Ausgangspunkt für ein niedrig anzusetzendes Schmerzensgeld. Keinen Schadensersatz konnte der Kläger für erhöhte Medikamentenkosten i.H.v. 107,49 € geltend machen. Zwar können derartige Kosten grundsätzlich nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersatzfähig sein. Nachdem die Beklagten den wenig konkreten Vortrag des Klägers ebenso einfach bestritten hatten, hat der Kläger nicht dargelegt, welche Medikamente im Einzelnen aufgrund welchen konkreten Sturzereignisses erforderlich gewesen sein sollen.
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Landesregierung Schleswig-Holstein
Die Beklagte betreibt eine Pflegeeinrichtung. Der Kläger ist der Sohn und Erbe der verstorbenen 98-jährigen Erblasserin. Seit 2017 war ihr wegen Demenz der Pflegegrad 4 zugeordnet. Am 20.5.2019 hatte der Kläger für die Erblasserin einen Vertrag über Wohnraum mit Pflege- und Betreuungsdienstleistungen in vollstationärer Behandlung in der Pflegeeinrichtung der Beklagten abgeschlossen. Während der Aufenthaltszeit dokumentierte das Pflegepersonal zehn Sturzereignisse der Erblasserin in Sturzereignisprotokollen. Am 27.7.2019 wurde die Erblasserin nach mind. drei weiteren Stürzen in eine Klinik gebracht, wo sie am 29.7.2019 verstarb.
Der Kläger war der Auffassung, die Beklagte sei verpflichtet gewesen, Vorsorge zur Verhinderung von Stürzen zu treffen. Sie hätte bereits nach den ersten Stürzen einen richterlichen Beschluss zur Fixierung erwirken müssen. Dadurch wären das Hochstellen des Bettgitters, eine Fixierung im Rollstuhl o.ä. als sturzvorbeugende Maßnahmen möglich gewesen. Der Kläger beantragte, die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld von mind. 20.000 € zu zahlen.
Die Beklagte behauptete, durch das Pflegepersonal seien bei der Erblasserin halbstündige Kontrollgänge durchgeführt worden. Alle zwei bis drei Stunden seien Toilettengänge durchgeführt worden. Wege mit dem Rollator seien begleitend unterstützt worden. In der Nacht seien alle zwei Stunden Kontrollgänge durchgeführt worden. Weitere Maßnahmen zur Sturzprophylaxe seien bereits erarbeitet worden.
Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben.
Die Gründe:
Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 3.000 € aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Heimvertrag i.V.m. § 1922 Abs. 1 BGB zu.
Der Erblasserin standen Schadensersatzansprüche aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB i.V.m. dem Heimvertrag aufgrund von zurechenbaren Verstößen gegen aus dem Heimvertrag erwachsene Obhutspflichten gegen die Beklagte zu. Die Pflichten des Heimträgers sind begrenzt auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab müssen das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare sein. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind.
Letztlich ist aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden, welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen. Im Falle einer schuldhaften Pflichtverletzung können sowohl schuldrechtliche als auch deliktische Schadensersatzanspruch begründet sein.
Die Beklagte hatte auf die mind. 13 Stürze der Erblasserin nicht durch Anwendung konkreter Sicherungsmaßnahmen in Folge der Anpassung der Risikoprognose reagiert. Zwar konnte zu ihren Gunsten unterstellt werden, dass sie aufgrund des ersten Sturzereignisses am 26.5.2019 das Gespräch mit dem Kläger gesucht hatte. Doch nach dem dritten Sturzereignis am 15.6.2019, bei der sich die Erblasserin erstmals eine Platzwunde zugezogen hatte und in die Klinik gebracht wurde, sowie nach dem vierten Sturz am 16.6.2019, bei der die Erblasserin über Schmerzen geklagt hatte und erneut in die Klinik gebracht wurde, war das Pflegepersonal der Beklagten gehalten, die Risikoprognose anzupassen.
Aufgrund der bei der Erblasserin verursachten Körperverletzungen stand ihr ein Schmerzensgeldanspruch i.H.v. 3.000 € zu. Ein weitergehender Schadensersatzanspruch war abzulehnen. Die Art der Verletzungen sprach im Ausgangspunkt für ein niedrig anzusetzendes Schmerzensgeld. Keinen Schadensersatz konnte der Kläger für erhöhte Medikamentenkosten i.H.v. 107,49 € geltend machen. Zwar können derartige Kosten grundsätzlich nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersatzfähig sein. Nachdem die Beklagten den wenig konkreten Vortrag des Klägers ebenso einfach bestritten hatten, hat der Kläger nicht dargelegt, welche Medikamente im Einzelnen aufgrund welchen konkreten Sturzereignisses erforderlich gewesen sein sollen.
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