Anspruch auf Gewährung von Geburts- und Mutterschaftsbeihilfe für Drittstaatsangehörige mit kombinierter Arbeitserlaubnis
EuGH v. 2.9.2021 - C-350/20
Der Sachverhalt:
Die italienischen Behörden verweigerten mehreren Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in Italien aufhielten und im Besitz einer kombinierten Arbeitserlaubnis nach den italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2011/98 waren, die Gewährung einer Geburtsbeihilfe und einer Mutterschaftsbeihilfe. Diese Weigerung wurde damit begründet, dass diese Personen entgegen den im Gesetz Nr. 190/2014 und dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 151/2010 vorgesehenen Anforderungen nicht die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten hätten.
Nach dem Gesetz Nr. 190/2014, mit dem eine Geburtsbeihilfe für jedes geborene oder adoptierte Kind eingeführt wurde, wird die Beihilfe mtl. an italienische Staatsangehörige, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörige gewährt, die im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, um die Geburtenrate zu erhöhen und zu den Kosten ihrer Förderung beizutragen. Mit dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 151/2001 wurde die Mutterschaftsbeihilfe für jedes ab dem 1.1.2001 geborene Kind oder für alle Minderjährigen gewährt, die an in Italien wohnhafte Frauen, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats oder eines anderen Mitgliedstaats der Union oder Inhaberinnen einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, in adoptionsvorbereitende Betreuung gegeben oder adoptiert worden sind.
Die betroffenen Drittstaatsangehörigen fochten die Versagung bei den italienischen Gerichten an. Der mit der Sache befasste Kassationsgerichtshof in Italien ist der Ansicht, dass die Regelung zur Geburtsbeihilfe u. a. gegen mehrere Bestimmungen der italienischen Verfassung verstoße. Er wandte sich mit Fragen zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Nr. 190/2014 an den italienischen Verfassungsgerichtshof, soweit darin die Gewährung der Geburtsbeihilfe an Drittstaatsangehörige unter die Bedingung gestellt wird, dass sie die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen. Mit der gleichen Begründung wurde der Verfassungsgerichtshof mit einer Frage zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 151/2001 in Bezug auf die Mutterschaftsbeihilfe befasst.
Da der Verfassungsgerichtshof der Ansicht ist, dass das Verbot willkürlicher Diskriminierungen sowie der Mutter- und Kinderschutz, die durch die italienische Verfassung garantiert seien, unter Beachtung der zwingenden Vorgaben des Unionsrechts auszulegen seien, hat er den EuGH um Klarstellung der Tragweite des in Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Rechts auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit sowie des in Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 Drittstaatsarbeitnehmern gewährten Rechts auf Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ersucht.
Die Gründe:
Der EuGH bestätigt in seinem Urteil das Recht von Drittstaatsangehörigen, die im Besitz einer kombinierten Erlaubnis sind, gem. Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 eine Geburtsbeihilfe und eine Mutterschaftsbeihilfe wie die in den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehenen in Anspruch zu nehmen.
Die Frage der Vereinbarkeit der italienischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht ist allein anhand der Richtlinie 2011/98 zu prüfen, da Art. 12 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie das Recht auf Zugang zu den in Art. 34 Abs. 1 und 2 der Charta der Grundrechte genannten Leistungen der sozialen Sicherheit konkretisiert. Da der Anwendungsbereich dieser Bestimmung der Richtlinie, die auf die Verordnung Nr. 883/2004 verweist, durch Letztere bestimmt wird, ist als Zweites zu prüfen, ob die Geburtsbeihilfe und die Mutterschaftsbeihilfe, die in Rede stehen, Leistungen darstellen, die zu den in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung aufgezählten Zweigen der sozialen Sicherheit gehören.
Zur Geburtsbeihilfe ist festzustellen, dass diese Beihilfe unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers automatisch an Haushalte gewährt wird, die bestimmten objektiven, gesetzlich definierten Kriterien entsprechen. Es handelt sich um eine Geldleistung, die dazu bestimmt ist, im Wege eines staatlichen Beitrags zum Familienbudget die Kosten für den Unterhalt eines Neugeborenen oder eines adoptierten Kindes zu verringern. Daraus ist zu schließen, dass diese Beihilfe eine Familienleistung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 darstellt.
Zur Mutterschaftsbeihilfe ist darauf hinzuweisen, dass diese - abgesehen davon, dass sie bei einem an ein Arbeitsverhältnis oder die Ausübung eines freien Berufs anknüpfenden Mutterschaftsgeld nicht gewährt wird - unter Berücksichtigung des Einkommens des Haushalts, dem die Mutter angehört, auf der Grundlage eines objektiven, gesetzlich definierten Kriteriums, nämlich des Indikators für die wirtschaftliche Situation, gewährt oder versagt wird, ohne dass die zuständige Behörde andere persönliche Umstände berücksichtigen darf. Diese Beihilfe bezieht sich außerdem auf den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Zweig der sozialen Sicherheit.
Insoweit fallen die Geburtsbeihilfe und die Mutterschaftsbeihilfe unter die Zweige der sozialen Sicherheit, für die den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/98 genannten Drittstaatsangehörigen das von dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung zusteht. Da Italien von der den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, die Gleichbehandlung zu beschränken, keinen Gebrauch gemacht hat, ist davon auszugehen, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die diese Drittstaatsangehörigen von der Gewährung der Beihilfen ausschließen, nicht mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie vereinbar sind.
EuGH PM Nr. 148 Vom 2.9.2021
Die italienischen Behörden verweigerten mehreren Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in Italien aufhielten und im Besitz einer kombinierten Arbeitserlaubnis nach den italienischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2011/98 waren, die Gewährung einer Geburtsbeihilfe und einer Mutterschaftsbeihilfe. Diese Weigerung wurde damit begründet, dass diese Personen entgegen den im Gesetz Nr. 190/2014 und dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 151/2010 vorgesehenen Anforderungen nicht die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten hätten.
Nach dem Gesetz Nr. 190/2014, mit dem eine Geburtsbeihilfe für jedes geborene oder adoptierte Kind eingeführt wurde, wird die Beihilfe mtl. an italienische Staatsangehörige, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörige gewährt, die im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, um die Geburtenrate zu erhöhen und zu den Kosten ihrer Förderung beizutragen. Mit dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 151/2001 wurde die Mutterschaftsbeihilfe für jedes ab dem 1.1.2001 geborene Kind oder für alle Minderjährigen gewährt, die an in Italien wohnhafte Frauen, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats oder eines anderen Mitgliedstaats der Union oder Inhaberinnen einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, in adoptionsvorbereitende Betreuung gegeben oder adoptiert worden sind.
Die betroffenen Drittstaatsangehörigen fochten die Versagung bei den italienischen Gerichten an. Der mit der Sache befasste Kassationsgerichtshof in Italien ist der Ansicht, dass die Regelung zur Geburtsbeihilfe u. a. gegen mehrere Bestimmungen der italienischen Verfassung verstoße. Er wandte sich mit Fragen zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Nr. 190/2014 an den italienischen Verfassungsgerichtshof, soweit darin die Gewährung der Geburtsbeihilfe an Drittstaatsangehörige unter die Bedingung gestellt wird, dass sie die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen. Mit der gleichen Begründung wurde der Verfassungsgerichtshof mit einer Frage zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 151/2001 in Bezug auf die Mutterschaftsbeihilfe befasst.
Da der Verfassungsgerichtshof der Ansicht ist, dass das Verbot willkürlicher Diskriminierungen sowie der Mutter- und Kinderschutz, die durch die italienische Verfassung garantiert seien, unter Beachtung der zwingenden Vorgaben des Unionsrechts auszulegen seien, hat er den EuGH um Klarstellung der Tragweite des in Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Rechts auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit sowie des in Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 Drittstaatsarbeitnehmern gewährten Rechts auf Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit ersucht.
Die Gründe:
Der EuGH bestätigt in seinem Urteil das Recht von Drittstaatsangehörigen, die im Besitz einer kombinierten Erlaubnis sind, gem. Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/98 eine Geburtsbeihilfe und eine Mutterschaftsbeihilfe wie die in den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehenen in Anspruch zu nehmen.
Die Frage der Vereinbarkeit der italienischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht ist allein anhand der Richtlinie 2011/98 zu prüfen, da Art. 12 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie das Recht auf Zugang zu den in Art. 34 Abs. 1 und 2 der Charta der Grundrechte genannten Leistungen der sozialen Sicherheit konkretisiert. Da der Anwendungsbereich dieser Bestimmung der Richtlinie, die auf die Verordnung Nr. 883/2004 verweist, durch Letztere bestimmt wird, ist als Zweites zu prüfen, ob die Geburtsbeihilfe und die Mutterschaftsbeihilfe, die in Rede stehen, Leistungen darstellen, die zu den in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung aufgezählten Zweigen der sozialen Sicherheit gehören.
Zur Geburtsbeihilfe ist festzustellen, dass diese Beihilfe unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers automatisch an Haushalte gewährt wird, die bestimmten objektiven, gesetzlich definierten Kriterien entsprechen. Es handelt sich um eine Geldleistung, die dazu bestimmt ist, im Wege eines staatlichen Beitrags zum Familienbudget die Kosten für den Unterhalt eines Neugeborenen oder eines adoptierten Kindes zu verringern. Daraus ist zu schließen, dass diese Beihilfe eine Familienleistung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 darstellt.
Zur Mutterschaftsbeihilfe ist darauf hinzuweisen, dass diese - abgesehen davon, dass sie bei einem an ein Arbeitsverhältnis oder die Ausübung eines freien Berufs anknüpfenden Mutterschaftsgeld nicht gewährt wird - unter Berücksichtigung des Einkommens des Haushalts, dem die Mutter angehört, auf der Grundlage eines objektiven, gesetzlich definierten Kriteriums, nämlich des Indikators für die wirtschaftliche Situation, gewährt oder versagt wird, ohne dass die zuständige Behörde andere persönliche Umstände berücksichtigen darf. Diese Beihilfe bezieht sich außerdem auf den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Zweig der sozialen Sicherheit.
Insoweit fallen die Geburtsbeihilfe und die Mutterschaftsbeihilfe unter die Zweige der sozialen Sicherheit, für die den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2011/98 genannten Drittstaatsangehörigen das von dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung zusteht. Da Italien von der den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie eingeräumten Möglichkeit, die Gleichbehandlung zu beschränken, keinen Gebrauch gemacht hat, ist davon auszugehen, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die diese Drittstaatsangehörigen von der Gewährung der Beihilfen ausschließen, nicht mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie vereinbar sind.