Arbeits- oder ordentliche Gerichtsbarkeit? Zur Durchbrechung der Bindungswirkung eines nach § 17a Abs. 1 GVG ergangenen Verweisungsbeschlusses
BGH v. 18.2.2025 - X ARZ 546/24
Der Sachverhalt:
Das Verfahren betrifft die Bestimmung des zuständigen Gerichts für einen Rechtsstreit, mit dem die Klägerin die Übertragung einer Stelle als Direktorin der Kulturstiftung der Beklagten verlangt. Die Beklagte ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Klägerin war auf Grundlage eines befristeten Anstellungsvertrags im Zeitraum vom 1.2.2017 bis zum 31.1.2022 als Direktorin der Beklagten bestellt. Ab November 2021 führte die Beklagte ein Ausschreibungsverfahren für die Besetzung der Direktorenstelle ab dem 1.2.2022 durch. Die Wahl des dafür zuständigen Kuratoriums fiel im März 2022 auf eine Mitbewerberin. Die Klägerin beantragte daraufhin beim LG Dessau-Roßlau, der Beklagten im Wege der einstweiligen Verfügung die Besetzung der Stelle mit einem Mitbewerber zu versagen. Das LG verwies die Sache an das ArbG Dessau-Roßlau. Dieses erließ die einstweilige Verfügung. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg.
Im Oktober 2022 erhob die Klägerin beim ArbG Klage auf Übertragung der Direktorenstelle. Im Februar 2023 brach die Beklagte das Besetzungsverfahren ab. Daraufhin begehrte die Klägerin ergänzend die Fortsetzung dieses Verfahrens. Das ArbG stellte am 2.6.2023 unter Abweisung der Klage im Übrigen fest, dass die im März 2022 getroffene Auswahlentscheidung der Beklagten rechtswidrig gewesen ist. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Ab August 2023 führte die Beklagte ein neues Bewerberverfahren für die Direktorenstelle durch. Die Klägerin wurde nicht in die engere Auswahl der Kandidaten einbezogen. Sie stellte daraufhin beim LG erneut einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Das LG verwies auch diese Sache an das ArbG. Dieses untersagte der Beklagten mit Urteil vom 14.11.2023, die Stelle vor dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit einem anderen Bewerber zu besetzen. Die hiergegen von beiden Parteien eingelegten Berufungen sind noch anhängig.
Mit einer am 30.4.2024 beim ArbG eingereichten Klage verlangt die Klägerin die Übertragung der im August 2023 ausgeschriebenen Stelle, hilfsweise die Feststellung, dass die zu ihren Ungunsten ergangene Auswahlentscheidung unwirksam und das Auswahlverfahren unter Beachtung der Auffassung des Gerichts zu wiederholen ist. Mit Beschluss vom 11.9.2024 hat das ArbG nach Anhörung der Parteien den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für nicht eröffnet erklärt und den Rechtsstreit an das LG verwiesen. Das LG hat nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 4.11.2024 den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten als nicht gegeben erachtet und den Rechtsstreit an das ArbG zurückverwiesen. Das ArbG hat die Übernahme des Verfahrens mit Beschluss vom 6.11.2024 abgelehnt. Mit Beschluss vom 15.11.2024 hat das LG die Sache dem BGH zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Mittlerweile hat die Beklagte das Ausschreibungsverfahren erneut abgebrochen. Die Klägerin hat daraufhin den Rechtstreit für in der Hauptsache erledigt erklärt. Die Beklagte ist dieser Erklärung entgegengetreten.
Der BGH entschied, dass das LG Dessau-Roßlau zuständig ist.
Die Gründe:
Ein nach § 17a Abs. 2 GVG ergangener Beschluss, mit dem ein Gericht den beschrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verweist, ist grundsätzlich einer weiteren Überprüfung entzogen, sobald er unanfechtbar geworden ist. Etwas anderes gilt jedoch, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung von unanfechtbaren Verweisungsbeschlüssen kommt und keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten. So liegt der Fall hier. Beide beteiligten Gerichte haben die Übernahme des Rechtsstreits abgelehnt, weil sie die Verweisung durch das jeweils andere Gericht für nicht bindend halten.
Die Voraussetzungen für die Gerichtsstandbestimmung sind nicht deswegen entfallen, weil die Klägerin den Rechtsstreit für erledigt erklärt hat. Nach der Rechtsprechung des Senats ist eine Gerichtsstandbestimmung grundsätzlich nur zulässig, solange noch gerichtliche Entscheidungen durch das in der Hauptsache zuständige Gericht zu treffen sind. Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Da die Beklagte der Erledigungserklärung widersprochen hat, ist über die ursprüngliche Zulässigkeit und Begründetheit der Klage zu entscheiden. Diese Entscheidung hat durch das in der Hauptsache zuständige Gericht zu ergehen.
Zuständig ist das LG Dessau-Roßlau. Der Verweisungsbeschluss des ArbG vom 11.9.2024 ist gem. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Eine Durchbrechung dieser Bindungswirkung kommt allenfalls bei, wie es das BVerwG formuliert hat, "extremen Verstößen" gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften in Betracht, etwa wenn sich die Verweisungsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Eine Durchbrechung der Bindungswirkung nach diesen Grundsätzen ist auf Ausnahmefälle beschränkt.
Beide Parteien können einen nach ihrer Auffassung fehlerhaften Beschluss nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG mit der sofortigen Beschwerde anfechten. Machen sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, besteht grundsätzlich kein Anlass, dem Gericht des für zulässig erklärten Rechtswegs die Befugnis zuzubilligen, sich an die Stelle des Rechtsmittelgerichts zu setzen. Der Verweisungsbeschluss des ArbG leidet nicht an Mängeln, die die Bindungswirkung entfallen lassen.
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Lückemann in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
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Im Oktober 2022 erhob die Klägerin beim ArbG Klage auf Übertragung der Direktorenstelle. Im Februar 2023 brach die Beklagte das Besetzungsverfahren ab. Daraufhin begehrte die Klägerin ergänzend die Fortsetzung dieses Verfahrens. Das ArbG stellte am 2.6.2023 unter Abweisung der Klage im Übrigen fest, dass die im März 2022 getroffene Auswahlentscheidung der Beklagten rechtswidrig gewesen ist. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Ab August 2023 führte die Beklagte ein neues Bewerberverfahren für die Direktorenstelle durch. Die Klägerin wurde nicht in die engere Auswahl der Kandidaten einbezogen. Sie stellte daraufhin beim LG erneut einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Das LG verwies auch diese Sache an das ArbG. Dieses untersagte der Beklagten mit Urteil vom 14.11.2023, die Stelle vor dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit einem anderen Bewerber zu besetzen. Die hiergegen von beiden Parteien eingelegten Berufungen sind noch anhängig.
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Beide Parteien können einen nach ihrer Auffassung fehlerhaften Beschluss nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG mit der sofortigen Beschwerde anfechten. Machen sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, besteht grundsätzlich kein Anlass, dem Gericht des für zulässig erklärten Rechtswegs die Befugnis zuzubilligen, sich an die Stelle des Rechtsmittelgerichts zu setzen. Der Verweisungsbeschluss des ArbG leidet nicht an Mängeln, die die Bindungswirkung entfallen lassen.
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§ 17a (Rechtswegentscheidung)
Lückemann in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
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