Arbeitsunfall: Auslegung des Begriffs der groben Fahrlässigkeit i.S.v. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII
OLG München v. 3.3.2025, 19 U 3486/24 e
Der Sachverhalt:
Die Beklagte zu 1) ist ein Unternehmen, das Bodenlegearbeiten aller Art und Handel mit Bodenbelägen anbietet. Der Beklagte zu 2) war bis 22.6.2021 Geschäftsführer des Unternehmens. Am 1.3.2019 war es im Keller des im Eigentum des Beklagten zu 2) stehenden Anwesens zu einer Explosion gekommen. Die Beklagte zu 1) war dort u.a. mit dem Verkleben von Teppich beauftragt. Der Beklagte zu 2) hatte die Bauaufsicht inne. Der Geschädigte C. war damals bei der Beklagten zu 1) als Parkettleger beschäftigt, der Geschädigte B. war Schülerpraktikant.
Im Kellernebenraum des Anwesens war während der Verklebearbeiten ein Katalyt-Heizofen in Betrieb, der an eine Propangas-Flasche angeschlossen war und eine offene Flamme erzeugte. Dieser war dort nicht vom Beklagten zu 2) platziert worden. Er hatte aber den Ofen aber wahrgenommen und nicht kontrolliert. Sämtliche Kellerfenster waren zum diesem Zeitpunkt geschlossen oder lediglich gekippt. Aufgrund der Dämpfe des verwendeten, leicht entzündbaren Klebers und der Flamme des Ofens kam es zu einer schweren Explosion. Sämtliche Beteiligten erlitten schwerste Verbrennungen. Die Betriebshaftpfichtversicherung der Beklagten zu 1) lehnte eine Einstandspflicht ab.
Die Klägerin, eine Bau-Berufsgenossenschaft, nahm daraufhin den Beklagten zu 2) aus § 110 Abs. 1 SGB VII und die Beklagte zu 1) gem. § 111 S. 1 SGB VII auf Erstattung der Aufwendungen in Anspruch, die ihr infolge des Arbeitsunfalls entstanden sind, bei dem die bei der Klägerin versicherten Geschädigten C. und B. verletzt waren. Das LG hat der Klage vollen Umfangs stattgegeben. Das OLG beabsichtigt, die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Gründe:
Das LG hat weder den Begriff der groben Fahrlässigkeit i.S.v. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII verkannt noch bei der Beurteilung des Verschuldensgrades im vorliegenden Fall wesentliche Umstände außer Betracht gelassen.
Für die Auslegung des Begriffs der groben Fahrlässigkeit kann auf die zu § 640 Abs. 1 RVO a.F. ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Die Vorschrift in § 110 Abs. 1 SGB VII hat im Vergleich zu § 640 Abs. 1 RVO a.F., an dessen Stelle sie getreten ist, an dem haftungsauslösenden Verschuldensgrad nichts geändert. Danach setzt grobe Fahrlässigkeit i.S.d. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein zwar noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes personales Verschulden, nur weil ein solches häufig damit einherzugehen pflegt. Vielmehr erscheint eine Inanspruchnahme des haftungsprivilegierten Schädigers im Wege des Rückgriffs nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (vgl. BGH, Urt. v. 18.2.2014, Az. VI ZR 51/13).
Zudem ist nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften als ein grob fahrlässiges Verhalten i.S.d. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII zu werten. Vielmehr ist auch dann, wenn solche Verstöße gegen Sorgfaltsgebote vorliegen, eine Wertung des Verhaltens des Schädigers geboten, in die auch die weiteren Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind. Es kommt darauf an, ob es sich um eine Unfallverhütungsvorschrift handelt, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befasst und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Daneben spielt insbesondere eine Rolle, ob der Schädiger nur unzureichende Sicherungsmaßnahmen getroffen oder von den vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen völlig abgesehen hat, obwohl die Sicherungsanweisungen eindeutig waren. Im letzteren Fall kann der objektive Verstoß gegen elementare Sicherungspflichten ein solches Gewicht haben, dass der Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt ist.
Im Streitfall waren § 2 Abs. 1 DGUV Vorschrift 1 - Unfallverhütungsvorschrift "Grundsätze der Prävention" (UW) i.V.m. § 7 Abs. 4 S. 1, 3, 4 Nr. 2 und § 12 Abs. 2 GefStoffV einschlägig. Danach waren im Rahmen der vorliegend durchgeführten Klebearbeiten u.a. Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zu treffen und Gefährdungen der Gesundheit und der Sicherheit der Beschäftigten bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen auszuschließen, insbesondere für angemessene Be- und Entlüftung zu sorgen. Hiergegen hatte der Beklagte zu 2) objektiv verstoßen. Zudem war ihm in subjektiver Hinsicht ein gegenüber der einfachen Fahrlässigkeit deutlich gesteigerter Schuldvorwurf zu machen, da nicht nur ein objektiv schwerer, sondern auch ein subjektiv nicht entschuldbarer Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorlag.
Den Beklagten zu 2) entlastete ebenso wenig die Tatsache, dass er den Ofen weder selbst in die Kellerräume gebracht, noch anschaltet hatte, wie der Umstand, dass es sich um das sein Haus handelte, und er damit sowohl sein Eigentum, als auch seine eigene körperliche Unversehrtheit gefährdet hat. Auch die Ansicht, das Verhalten des Beklagten zu 2) stelle sich als sog. "Augenblicksversagen" dar, was es in einem milderen Licht erscheinen lassen müsse, war unerheblich. Der Ausdruck des "Augenblicksversagens" beschreibt nämlich nur den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht ließ. Das allein ist kein ausreichender Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben sind.
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Bayern.Recht
Die Beklagte zu 1) ist ein Unternehmen, das Bodenlegearbeiten aller Art und Handel mit Bodenbelägen anbietet. Der Beklagte zu 2) war bis 22.6.2021 Geschäftsführer des Unternehmens. Am 1.3.2019 war es im Keller des im Eigentum des Beklagten zu 2) stehenden Anwesens zu einer Explosion gekommen. Die Beklagte zu 1) war dort u.a. mit dem Verkleben von Teppich beauftragt. Der Beklagte zu 2) hatte die Bauaufsicht inne. Der Geschädigte C. war damals bei der Beklagten zu 1) als Parkettleger beschäftigt, der Geschädigte B. war Schülerpraktikant.
Im Kellernebenraum des Anwesens war während der Verklebearbeiten ein Katalyt-Heizofen in Betrieb, der an eine Propangas-Flasche angeschlossen war und eine offene Flamme erzeugte. Dieser war dort nicht vom Beklagten zu 2) platziert worden. Er hatte aber den Ofen aber wahrgenommen und nicht kontrolliert. Sämtliche Kellerfenster waren zum diesem Zeitpunkt geschlossen oder lediglich gekippt. Aufgrund der Dämpfe des verwendeten, leicht entzündbaren Klebers und der Flamme des Ofens kam es zu einer schweren Explosion. Sämtliche Beteiligten erlitten schwerste Verbrennungen. Die Betriebshaftpfichtversicherung der Beklagten zu 1) lehnte eine Einstandspflicht ab.
Die Klägerin, eine Bau-Berufsgenossenschaft, nahm daraufhin den Beklagten zu 2) aus § 110 Abs. 1 SGB VII und die Beklagte zu 1) gem. § 111 S. 1 SGB VII auf Erstattung der Aufwendungen in Anspruch, die ihr infolge des Arbeitsunfalls entstanden sind, bei dem die bei der Klägerin versicherten Geschädigten C. und B. verletzt waren. Das LG hat der Klage vollen Umfangs stattgegeben. Das OLG beabsichtigt, die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Gründe:
Das LG hat weder den Begriff der groben Fahrlässigkeit i.S.v. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII verkannt noch bei der Beurteilung des Verschuldensgrades im vorliegenden Fall wesentliche Umstände außer Betracht gelassen.
Für die Auslegung des Begriffs der groben Fahrlässigkeit kann auf die zu § 640 Abs. 1 RVO a.F. ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Die Vorschrift in § 110 Abs. 1 SGB VII hat im Vergleich zu § 640 Abs. 1 RVO a.F., an dessen Stelle sie getreten ist, an dem haftungsauslösenden Verschuldensgrad nichts geändert. Danach setzt grobe Fahrlässigkeit i.S.d. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein zwar noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes personales Verschulden, nur weil ein solches häufig damit einherzugehen pflegt. Vielmehr erscheint eine Inanspruchnahme des haftungsprivilegierten Schädigers im Wege des Rückgriffs nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (vgl. BGH, Urt. v. 18.2.2014, Az. VI ZR 51/13).
Zudem ist nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften als ein grob fahrlässiges Verhalten i.S.d. § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII zu werten. Vielmehr ist auch dann, wenn solche Verstöße gegen Sorgfaltsgebote vorliegen, eine Wertung des Verhaltens des Schädigers geboten, in die auch die weiteren Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind. Es kommt darauf an, ob es sich um eine Unfallverhütungsvorschrift handelt, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befasst und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Daneben spielt insbesondere eine Rolle, ob der Schädiger nur unzureichende Sicherungsmaßnahmen getroffen oder von den vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen völlig abgesehen hat, obwohl die Sicherungsanweisungen eindeutig waren. Im letzteren Fall kann der objektive Verstoß gegen elementare Sicherungspflichten ein solches Gewicht haben, dass der Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt ist.
Im Streitfall waren § 2 Abs. 1 DGUV Vorschrift 1 - Unfallverhütungsvorschrift "Grundsätze der Prävention" (UW) i.V.m. § 7 Abs. 4 S. 1, 3, 4 Nr. 2 und § 12 Abs. 2 GefStoffV einschlägig. Danach waren im Rahmen der vorliegend durchgeführten Klebearbeiten u.a. Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zu treffen und Gefährdungen der Gesundheit und der Sicherheit der Beschäftigten bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen auszuschließen, insbesondere für angemessene Be- und Entlüftung zu sorgen. Hiergegen hatte der Beklagte zu 2) objektiv verstoßen. Zudem war ihm in subjektiver Hinsicht ein gegenüber der einfachen Fahrlässigkeit deutlich gesteigerter Schuldvorwurf zu machen, da nicht nur ein objektiv schwerer, sondern auch ein subjektiv nicht entschuldbarer Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorlag.
Den Beklagten zu 2) entlastete ebenso wenig die Tatsache, dass er den Ofen weder selbst in die Kellerräume gebracht, noch anschaltet hatte, wie der Umstand, dass es sich um das sein Haus handelte, und er damit sowohl sein Eigentum, als auch seine eigene körperliche Unversehrtheit gefährdet hat. Auch die Ansicht, das Verhalten des Beklagten zu 2) stelle sich als sog. "Augenblicksversagen" dar, was es in einem milderen Licht erscheinen lassen müsse, war unerheblich. Der Ausdruck des "Augenblicksversagens" beschreibt nämlich nur den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht ließ. Das allein ist kein ausreichender Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit herabzustufen, wenn die objektiven Merkmale der groben Fahrlässigkeit gegeben sind.
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