25.10.2022

Arzthaftung: Schmerzensgeld nach bescheinigter differentialdiagnostischer Ahnungslosigkeit

Es erscheine völlig unverständlich, dass erst nach sechs Tagen stationärer Behandlung die erste Ultraschalluntersuchung erfolgt sei. Dabei sei ein deutlicher gastroösophagealer Reflux (GÖR) dargestellt worden. In Anbetracht der Symptome hätte dies bereits bei Aufnahme differentialdiagnostisch neben infektiösen Ursachen in Erwägung gezogen und unmittelbar abgeklärt werden müssen.

LG Bielefeld v. 1.4.2022 - 4 O 172/18
Der Sachverhalt:
Die Klägerin war am 28.9.2017 als reifes Neugeborenes mit APGAR-Werten von 9/10/10 ohne Auffälligkeiten in der 40 + 2. Schwangerschaftswoche geboren worden. Das Geburtsgewicht betrug 3.500 g. Zuvor hatte während der Schwangerschaft ein Schwangerschaftsdiabetes bestanden. Postpartal traten keine Probleme auf. Am 6.10.2017 stellte die Kinderärztin die Diagnose "Virusinfektion; V. a. Apnoe" und verordnete eine Krankenhausbehandlung aufgrund folgender Untersuchungsergebnisse:

"seit ein paar Tagen [sic!] Probleme mit dem Trinken, röchelt, verschleimt, heute nach dem Stillen massiv gespuckt, schlapp, nicht geschrien, Augen verdreht, blass, Mutter hat Vd. Atemstillstand".

Die Klägerin wurde noch am gleichen Tag mit Verdacht auf eine Neugeborenen-Infektion und Pneumonie stationär im Krankenhaus der Beklagten aufgenommen. Bei der Aufnahme war sie stabil. Es bestand eine heisere Stimme, der Rachenraum war geringfügig gerötet, die Schleimhäute waren feucht. Es bestanden ein trockener Husten und eine leicht beschleunigte Atmung. Die Untersuchung des Herzens und des Abdomens war unauffällig. Das Gewicht hatte mit 3.410 g das Geburtsgewicht noch nicht wieder erreicht. Die Klägerin wurde voll gestillt; sie spucke allerdings häufig, schrie häufig und hatte zu Hause eine röchelnde Atmung. Nach der stationären Aufnahme zeigte die Klägerin bereits einen Sauerstoffbedarf.

Nach eingehender Befunddiskussion der ärztlichen Mitarbeiter mit den Radiologen und Ärzten der Abdominalchirurgie wurde mit den Eltern der Klägerin diskutiert, dass die sonographischen und Röntgenbefunde am ehesten für eine subtotale Enge im Bereich des Duodenums sprachen. Aus diesem Grund wurde von den behandelnden Ärzten eine laparoskopische Operation empfohlen, um nach Überwindung der vermeintlichen Lungenentzündung eine Ursache für die außerdem vorliegende ausgeprägte Essstörung zu finden. Am 21.10.2017 wurde eine explorative Laparotomie durchgeführt.

Aufgrund der ungewöhnlichen Krankheitsgeschichte nahm man Kontakt mit der Medizinischen Hochschule auf. Die Diskussion der Befunde und des Krankheitsverlaufs erbrachte, dass möglicherweise auch eine seltene Stoffwechselstörung dem protrahierten Krankheitsverlauf zugrunde liegen könnte. Am 11.11.2017 erfolgte die Verlegung. Es folgten noch zahlreiche ambulante und stationäre Behandlungen. Bis heute besteht eine Entzündung im Bereich des Übergangs von Speiseröhre und Magen. Zudem leidet die Klägerin an den damit verbundenen Beschwerden, sie hat Schmerzen, kann nicht alles essen und muss Medikamente einnehmen.

Die Klägerin - vertreten durch die Eltern - behauptete, dass ihre Behandlung in der Klinik der Beklagten in der Zeit vom 6.10.2017 bis 11.11.2017 fehlerhaft gewesen sei. Angesichts ihrer Beschwerden (Magen-Darm-Probleme) seien Befunde behandlungsfehlerhaft nicht ausreichend bzw. verspätet erhoben worden. Das LG hat die Beklagte zur Zahlung von Schmerzensgeld i.H.v. 75.000 € verurteilt.

Die Gründe:
Der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche gem. §§ 630a, 280 Abs. 1, 278, 249, 253 Abs. 2 BGB bzw. §§ 823 Abs. 1, 831, 249, 253 Abs. 2 BGB zu. Die Beklagte hatte während des stationären Aufenthalts der Klägerin erhebliche Behandlungsfehler begangen, die als grob zu bewerten waren.

Der Sachverständige hat festgestellt, dass die Behandlung der Klägerin im Klinikum der Beklagten nicht den Regeln der ärztlichen Heilkunde entsprochen habe. Die Hauptsymptome des Kindes, die zur stationären Aufnahme geführt hätten, seien vor allem das schwallartige Erbrechen und das häufige Spucken nach den Mahlzeiten sowie die in der Anamnese angegebenen Stillprobleme von Geburt an gewesen, wodurch keine ausreichende Ernährung möglich gewesen sei. Diese bereits initial eindeutigen Hinweise auf eine Passagestörung im obere Magen-Darm-Trakt hätten unverständlicherweise in der Kinderklinik der Beklagten nicht die erforderliche Beachtung gefunden, sondern es sei vielmehr zunächst ausschließlich eine vermeintliche Neugeboreneninfektion behandelt worden. Jedoch seien in den vorliegenden Unterlagen keine eindeutigen Anzeichen für eine schwere pulmonale Infektion zu finden.

Es seien vielmehr eindeutig Befunde unvollständig oder verspätet erhoben worden. Es erscheine völlig unverständlich, dass erst nach sechs Tagen stationärer Behandlung die erste Ultraschalluntersuchung erfolgt sei. Dabei sei ein deutlicher gastroösophagealer Reflux (GÖR) dargestellt worden. In Anbetracht der Symptome hätte dies bereits bei Aufnahme differentialdiagnostisch neben infektiösen Ursachen in Erwägung gezogen und unmittelbar abgeklärt werden müssen. Zudem hätte nach Erkennen des GÖR unmittelbar die Suche nach Hinweisen auf eine Passagestörung in erster Linie am Pylorus (Magenausgang) bzw. im Bereich des Duodenums (Zwölffingerdarm) als Ursache erfolgen müssen. Im Befund werde allerdings zu dieser diagnostisch äußerst wichtigen und entscheidenden Frage nicht einmal Stellung genommen.

Der Sachverständige war weiter zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin früher in ein Spezialzentrum hätte verlegt werden müssen. Es sei völlig unverständlich, dass die Klägerin erst am 11.11.2017 und somit nach 36 Tagen stationärer Behandlung bei der Beklagten verlegt worden sei. Es habe ganz offensichtlich an einer interdisziplinären Beurteilung der Symtomatik und der Befunde sowie an einer interdisziplinären Beratung über erforderliche diagnostische Schritte bzw. das therapeutische Procedere inkl. der OP gefehlt. Am Ende des Verlegungsbriefes der Beklagten würden die Symptome und die Befunde in erschreckender Weise nahezu absolut verkannt und wiesen eine differentialdiagnostische Ahnungslosigkeit auf.

Mehr zum Thema:

Aufsatz
Arzthaftungsrecht: Aktuelle Rechtsprechung zu Diagnoseirrtum, Unterlassener Befunderhebung und Dokumentationsversäumnissen
Rüdiger Martis / Martina Winkhart-Martis, MDR 2022, 75

Aufsatz
Arzthaftungsrecht: Aktuelle Rechtsprechung zur Aufklärung des Patienten
Rüdiger Martis / Martina Winkhart-Martis, MDR 2022, 10

Aktionsmodul Zivilrecht
Sie können Tage nicht länger machen, aber effizienter. 6 Module vereint mit führenden Kommentaren, Handbüchern und Zeitschriften für die zivilrechtliche Praxis. Neu: Online-Unterhaltsrechner. Jetzt zahlreiche, bewährte Formulare mit LAWLIFT bearbeiten! Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO. 4 Wochen gratis nutzen!

Justiz NRW
Zurück