Arzthaftung: Zur unzulässigen Beweisantizipation
BGH v. 16.8.2022 - VI ZR 1151/20Die Klägerin hat seit ihrem 16. Lebensjahr Kniebeschwerden. Vor der streitgegenständlichen Behandlung war sie bereits 13-mal am Knie operiert. Im Januar 2012 erhielt sie rechts eine Knie-Totalendoprothese. Am 25.9.2013 suchte sie notfallmäßig das Krankenhaus der Beklagten zu 1) auf. Nach einer ersten Behandlung nahm der als Chefarzt tätige Beklagte zu 2) am 27.9.2013 eine operative Revision des Kniegelenks mit Gelenkspülung und einem PE-Inlay-Wechsel vor. Die Klägerin wurde am 10.10.2013 entlassen mit der Empfehlung, eine zehnwöchige Antibiotikatherapie durchzuführen.
Ein Jahr später wurde bei einer Ganzkörper-Knochenszintigraphie ein starker Knochenstoffwechsel im Bereich der Knieendoprothese festgestellt. Infolgedessen stellte sich die Klägerin erneut bei den Beklagten vor. Der Beklagte zu 2) entfernte die alte Prothese am 27.11.2014, ersetzte sie durch einen Platzhalter ("Spacer") und veranlasste eine zwölfwöchige Antibiose. Am 5.2.2015 wollte er eine teilgekoppelte bikondyläre Prothese einsetzen. Die Klägerin wurde deshalb in Vollnarkose versetzt. Nach ca. 30 Minuten wachte sie wieder auf. Ihr wurde mitgeteilt, dass das OP-Sieb unsauber gewesen sei und eine falsche Prothese darin gelegen habe. Die Prothese wurde deshalb erst am 9.2.2015 eingesetzt. Nach der Operation teilte der Beklagte zu 2) der Klägerin mit, die Beinachse sei gerade, es bestehe lediglich ein Streckdefizit. Er empfahl eine anschließende Reha zur Behebung des muskulären Streckdefizits.
Am 25.2.2015 stellte der die Klägerin ambulant betreuende Orthopäde eine fehlende Rehafähigkeit wegen einer starken klinischen Achsfehlstellung fest. Am 14.8.2015 unterzog sich die Klägerin einer Revisionsoperation durch Dr. Z. in einer anderen Klinik. Hierbei wurde u.a. die in vermehrter Valgusstellung stehende femorale Komponente der Prothese ausgetauscht. Die einen voll einzementierten Offset-Stem aufweisende tibiale Komponente wurde belassen. Am 10.10.2018 erfolgte in dieser Klinik eine erneute Revision des rechten Kniegelenks, bei der ein kompletter Wechsel der Prothese einschließlich der tibialen Komponente erfolgte.
Die Klägerin machte u.a. geltend, der Beklagte zu 2) habe die Prothese in der Operation vom 9. 2.2015 behandlungsfehlerhaft eingebracht. Nach der Operation sei ihr Unterschenkel völlig verdreht gewesen und das Wadenbein habe hinter statt neben dem Schienbein gestanden. Das LG hat der Klägerin wegen der unterlassenen Überprüfung des OP-Instrumentariums vor Einleitung der Vollnarkose am 5.2.2015 ein Schmerzensgeld von 500 € zuerkannt. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Das OLG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat der BGH das Berufungsurteil insoweit aufgehoben, als die Klage wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung zurückgewiesen worden war. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Die Beurteilung des OLG, der Beklagte zu 2) habe die am 9.2.2015 implantierte Prothese behandlungsfehlerfrei eingebracht, beruhte auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend machte, hatte die Klägerin ihre Behauptung eines Behandlungsfehlers durch die Beklagten bei der Operation am 9.2.2015 auch darauf gestützt, dass der nachbehandelnde Dr. Z. von einer Fehlstellung - auch - der tibialen Komponente der Prothese ausgegangen sei, diese aber in vertretbarer Weise nicht habe entfernen können, da sie einzementiert worden sei. Sie hat auf die ihre Behauptung grundsätzlich stützenden Ausführungen des Dr. Z. im OP-Bericht vom 14.8.2015 verwiesen, wonach die tibiale Komponente eine Innenrotation in Bezug auf die Vorderfußachse zeige, solide verankert sei, einen volleinzementierten Offset-Stem aufweise und ihre Entfernung nur durch Knochensubstanzverlust möglich sei. Sie hat geltend gemacht, soweit im Operationsbericht weiter ausgeführt sei, ein Wechsel der tibialen Komponente sei nicht erforderlich, sei dies missverständlich und gebe dies die wirkliche Auffassung des Dr. Z. im Zeitpunkt der Operation nicht zutreffend wieder. Dies habe ihr Dr. Z. bestätigt.
Bei dieser Sachlage durfte das OLG von der Vernehmung des von der Klägerin zum Beweis des intraoperativen klinischen Befundes benannten Operateurs Dr. Z. nicht absehen. In der Ablehnung des Beweisangebots mit der Begründung, die Behauptungen der Klägerin ständen im Widerspruch zu der eindeutigen und unverdächtigen Dokumentation in dem OP-Bericht, lag eine unzulässige Beweisantizipation. Ob der die Behauptung der Klägerin grundsätzlich stützende OP-Bericht den intraoperativen klinischen Befund im Streitfall in jeder Hinsicht zutreffend wiedergibt oder nicht, kann erst nach Vernehmung des von der Klägerin hierzu benannten Operateurs beurteilt werden.
Das OLG hat der Klägerin die Möglichkeit des Beweises abgeschnitten, dass der den Operationsbericht verfassende Dr. Z intraoperativ eine relevante Fehlstellung auch der tibialen Komponente der Prothese festgestellt hat und seine Feststellung lediglich unglücklich schriftlich niedergelegt hat. Der Umstand, dass eine entsprechende Bekundung des Dr. Z. von seinen schriftlichen Ausführungen im OP-Bericht abweichen kann, mag im Rahmen einer Beweiswürdigung nach einer Beweisaufnahme Berücksichtigung finden. Er berechtigte das OLG aber nicht dazu, den angebotenen Beweis gar nicht erst zu erheben.
Diese Gehörsverletzung war entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG bei einer Vernehmung des Zeu-gen Dr. Z zu einer anderen Beurteilung der Position der tibialen Komponente gekommen wäre.
Aufsatz
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Aktionsmodul Zivilrecht
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