Arzthaftungsrecht: Keine Umkehr der Beweislast trotz Behandlungsfehlers
OLG Köln v. 20.12.2021 - 5 U 39/21In der Nacht vom 2.6. auf den 3.6.2013 hatte die bei der Beklagten zu 1) angestellte Ärztin C. den Kläger als Kassenpatienten nach einem Sturz im häuslichen Bereich (wahrscheinlich von einer Leiter, die Erinnerung fehlte dem Kläger) behandelt. Die Unfallchirurgie wird von dem Beklagten zu 2) geleitet. Dabei war der Kläger - wie schon bei seiner Einlieferung - durchgängig auf einem Spineboard zum Schutz der Wirbelsäule fixiert. Bei einer radiologischen Untersuchung der Wirbelsäule des Klägers konnte mit Ausnahme der Halswirbel die zweite (seitliche) Ebene nicht dargestellt werden. Eine CT-Untersuchung des Schädels ergab u.a. den Hinweis auf eine mögliche Hirnkontusion. Es folgte die unmittelbare Überweisung des Klägers in die Klinik für Neurochirurgie der Beklagten zu 3), deren Chefarzt der Beklagte zu 4 ist), zwecks operativer Entlastung des vorhandenen Hämatoms.
Im Anschluss an die Reha-Behandlung suchte der Kläger im Juli 2013 ein Orthoteam auf, das eine Computertomografie der Lendenwirbelsäule veranlasste und Kompressionsfrakturen von LWK 1 und LWK 2 diagnostizierte. Der Kläger war der Ansicht, die Behandler der Beklagten hätten behandlungsfehlerhaft die Frakturen der LWK 1 und LWK 2 übersehen. Die erforderliche Befunderhebung, insbesondere in Form einer Röntgendiagnostik in zwei Ebenen, sei nicht durchgeführt worden. Die Beklagten hätten grobe Befunderhebungsfehler zu vertreten, die zu einer Beweislastumkehr führten.
Die Beklagten haben behauptet, eine ausführlichere Untersuchung des Klägers sei aufgrund der Notfallsituation nicht indiziert gewesen, da ersichtlich gewesen sei, dass im Wirbelsäulenbereich keine lebensbedrohlichen Verletzungen vorgelegen hätten, andererseits lebensrettende Maßnahmen durch die Neurochirurgie hätten erfolgen müssen. Dies habe im Vordergrund gestanden.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Auch die Berufung des Klägers vor dem OLG blieb erfolglos.
Die Gründe:
Dem Kläger steht gegen die Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus §§ 280 Abs.1, 611, 823 Abs.1, 249, 253 Abs.2 BGB zu. Im Ergebnis konnte der Kläger den Beweis für auf Behandlungsfehlern beruhende Gesundheitsschäden nicht erbringen.
Zwar fiel den Beklagten ein einfacher Befunderhebungsfehler zur Last, indem sie die Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule in seitlicher Aufnahme nicht - nach der Akutbehandlung - durchgeführt hatten. Insoweit bestand auch kein Streit unter den Parteien und Sachverständigen, dass grundsätzlich zum sicheren Frakturausschluss die Wirbelsäule sowohl in der a.p. - Ebene wie auch seitlich geröntgt werden muss. Für die einzelnen Beklagten ergab sich daraus Folgendes:
- Es stellte einen Befunderhebungsfehler dar, dass im Haus der Beklagten zu 1) nach der Rückverlegung keine Überprüfung erfolgte, ob eine Röntgenaufnahme in der zweiten Ebene im Haus der Beklagten zu 3) nachgeholt worden war.
- Für die Beklagte zu 3) war - jedenfalls bei genauer Prüfung - aufgrund des handschriftlichen Kurzbriefes mit dem Zusatz "a.p." und aufgrund der auf der mitgegebenen CD zwar als Datei angelegten, aber tatsächlich nicht abgespeicherten Röntgenaufnahme in der zweiten Ebene erkennbar, dass im Haus der Beklagten zu 1) eine vollständige Diagnostik hinsichtlich der Wirbelsäule nicht stattgefunden hatte. Dies hätte nachgeholt werden müssen.
Allerdings stellte sich für keinen der Behandler das Unterlassen der weiteren Röntgenaufnahme als grober Behandlungsfehler im Sinne eines eindeutigen Verstoßes gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf, dar. Auf den Befund der Wirbelkörperfrakturen nicht durch andere Maßnahmen, als sie bei den Beklagten ohnehin ergriffen worden sind, zu reagieren, war nicht grob fehlerhaft. Vielmehr hätte sich die Therapie auch bei richtiger Diagnose der Wirbelkörperfrakturen nicht ändern müssen. Insoweit haben die gerichtlichen Sachverständigen B und C übereinstimmend erklärt, dass eine konservative Behandlung der Frakturen mit Mobilisation und Analgesie kunstgerecht war. Ein Befunderhebungsfehler führt nicht zu einer Umkehr der Beweislast, wenn sich bei der gebotenen Abklärung zwar mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Befund ergeben hätte, auf den nicht zu reagieren sich als grob fehlerhaft darstellen würde, aber die erforderliche Therapie - wenn auch aus einem anderen Grund - ohnehin erfolgt ist.
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