Aufenthaltsrecht drittstaatsangehöriger Familienmitglieder
EuGH v. 5.5.2022 - C-451/19 u.a.
Der Sachverhalt:
XU (Rechtssache C-451/19), geboren am 19.9.2001 in Venezuela, lebt seit 2004 mit seiner Mutter in Spanien. Die Mutter - wie XU venezolanische Staatsangehörige - hat das alleinige Sorgerecht für XU. Sie ist Inhaberin einer von den spanischen Behörden ausgestellten Aufenthaltskarte. Im Jahr 2014 heiratete sie in Spanien einen spanischen Staatsangehörigen, der von seinem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union nie Gebrauch gemacht hatte. Das Ehepaar, das zusammen in einem Dorf in der Provinz Toledo (Spanien) lebt, bekam 2009 ein Kind, das die spanische Staatsangehörigkeit besitzt. Der Stiefvater stellte im September 2015 für XU einen Antrag auf Erteilung einer zeitlich befristeten Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern. Der Antrag wurde von den spanischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, der Stiefvater von XU habe nicht nachgewiesen, dass er für sich selbst und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfüge, um keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Der Klage des Stiefvaters von XU gegen diese Entscheidung wurde stattgegeben.
Am 25.9.2015 heiratete QP, ein peruanischer Staatsangehöriger (Rechtssache C-532/19), eine spanische Staatsangehörige, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union nie Gebrauch gemacht hatte. QP und seine Ehefrau sind Eltern einer am 11.8.2012 geborenen Tochter mit spanischer Staatsangehörigkeit. QP stellte einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern und fügte seinem Antrag u.a. den unbefristeten Arbeitsvertrag seiner Ehefrau und mehrere Gehaltsabrechnungen bei. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, QP sei in Spanien vorbestraft (nämlich zweifach wegen Führens eines Kfz ohne Fahrerlaubnis und einmal wegen Trunkenheit im Straßenverkehr) und seine Ehefrau verfüge für sich selbst und seine Familienangehörigen nicht über ausreichende Existenzmittel. Der Klage von QP gegen diese Entscheidung wurde stattgegeben.
Die Unterdelegation der Regierung in Toledo legte beim zuständigen spanischen Obergericht Berufung gegen die Urteile der erstinstanzlichen Gerichte ein, mit denen den Klagen von XU und QP gegen die Verwaltungsentscheidungen stattgegeben worden waren, mit denen ihre Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern abgelehnt worden waren.
Das Obergericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit des Automatismus der spanischen Verwaltungspraxis mit dem Unionsrecht sowie hinsichtlich der Auswirkungen dieser Praxis auf Unionsbürger, die gezwungen sein könnten, das Gebiet der Union zu verlassen, weil zwischen ihnen und ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Es fragt sich, ob dies mit dem abgeleiteten Aufenthaltsrecht vereinbar ist, das nach Ansicht des EuGH in ganz besonderen Sachverhalten Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen sei, um zu verhindern, dass einem EU-Staatsangehörigen der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleihe, vorenthalten werde, was der Fall wäre, wenn er gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, um seinem Familienangehörigen ohne Unionsbürgerschaft, dem das Aufenthaltsrecht verweigert worden sei, zu folgen.
Das Obergericht hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Gründe:
Es ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, Anträge auf Familienzusammenführung abzulehnen, wenn zuvor nicht geprüft worden ist, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger zum Verlassen des Gebiets der Union zwingen könnte, wenn dem Familienangehörigen kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wird. Dieses Abhängigkeitsverhältnis besteht nicht allein deshalb, weil der Unionsbürger und sein drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt und in dem die Ehe geschlossen wurde, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind.
Ist im Übrigen der Unionsbürger minderjährig (wie die Tochter von QP), muss die Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen Elternteil dieses Kindes ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, auf die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf das Wohl des Kindes gestützt werden. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis wird - wenn dieser Elternteil dauerhaft mit dem anderen Elternteil, der Unionsbürger ist, zusammenlebt - widerlegbar vermutet. Wenn nämlich der minderjährige Unionsbürger mit beiden Elternteilen dauerhaft zusammenlebt und sie sich daher tagtäglich das Sorgerecht für dieses Kind teilen sowie dessen rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge wahrnehmen, kann dieses Abhängigkeitsverhältnis vermutet werden, und zwar unabhängig davon, dass der andere Elternteil als Staatsangehöriger des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet diese Familie ansässig ist, über ein unbedingtes Recht verfügt, im Gebiet dieses Mitgliedstaats zu verbleiben. Gleichwohl können die Mitgliedstaaten selbst in diesem Fall dem drittstaatsangehörigen Elternteil unter bestimmten Voraussetzungen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Gründen verweigern, die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit zusammenhängen.
Ein Abhängigkeitsverhältnis, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (wie damals im Fall von XU), ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, besteht, wenn aus der Verbindung zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Kind mit Unionsbürgerschaft hervorgegangen ist, das nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (wie der Halbbruder von XU) und gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn das drittstaatsangehörige minderjährige Kind seinerseits gezwungen wäre, das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen. Denn der drittstaatsangehörige Elternteil, der mit dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind zusammenlebt, könnte gezwungen sein, es zu begleiten, was auch sein minderjähriges Kind mit Unionsbürgerschaft zwingen könnte, dieses Gebiet zu verlassen.
Mehr zum Thema:
EuGH PM Nr. 74 vom 5.5.2022
XU (Rechtssache C-451/19), geboren am 19.9.2001 in Venezuela, lebt seit 2004 mit seiner Mutter in Spanien. Die Mutter - wie XU venezolanische Staatsangehörige - hat das alleinige Sorgerecht für XU. Sie ist Inhaberin einer von den spanischen Behörden ausgestellten Aufenthaltskarte. Im Jahr 2014 heiratete sie in Spanien einen spanischen Staatsangehörigen, der von seinem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union nie Gebrauch gemacht hatte. Das Ehepaar, das zusammen in einem Dorf in der Provinz Toledo (Spanien) lebt, bekam 2009 ein Kind, das die spanische Staatsangehörigkeit besitzt. Der Stiefvater stellte im September 2015 für XU einen Antrag auf Erteilung einer zeitlich befristeten Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern. Der Antrag wurde von den spanischen Behörden mit der Begründung abgelehnt, der Stiefvater von XU habe nicht nachgewiesen, dass er für sich selbst und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfüge, um keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Der Klage des Stiefvaters von XU gegen diese Entscheidung wurde stattgegeben.
Am 25.9.2015 heiratete QP, ein peruanischer Staatsangehöriger (Rechtssache C-532/19), eine spanische Staatsangehörige, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union nie Gebrauch gemacht hatte. QP und seine Ehefrau sind Eltern einer am 11.8.2012 geborenen Tochter mit spanischer Staatsangehörigkeit. QP stellte einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern und fügte seinem Antrag u.a. den unbefristeten Arbeitsvertrag seiner Ehefrau und mehrere Gehaltsabrechnungen bei. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, QP sei in Spanien vorbestraft (nämlich zweifach wegen Führens eines Kfz ohne Fahrerlaubnis und einmal wegen Trunkenheit im Straßenverkehr) und seine Ehefrau verfüge für sich selbst und seine Familienangehörigen nicht über ausreichende Existenzmittel. Der Klage von QP gegen diese Entscheidung wurde stattgegeben.
Die Unterdelegation der Regierung in Toledo legte beim zuständigen spanischen Obergericht Berufung gegen die Urteile der erstinstanzlichen Gerichte ein, mit denen den Klagen von XU und QP gegen die Verwaltungsentscheidungen stattgegeben worden waren, mit denen ihre Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern abgelehnt worden waren.
Das Obergericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit des Automatismus der spanischen Verwaltungspraxis mit dem Unionsrecht sowie hinsichtlich der Auswirkungen dieser Praxis auf Unionsbürger, die gezwungen sein könnten, das Gebiet der Union zu verlassen, weil zwischen ihnen und ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Es fragt sich, ob dies mit dem abgeleiteten Aufenthaltsrecht vereinbar ist, das nach Ansicht des EuGH in ganz besonderen Sachverhalten Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen sei, um zu verhindern, dass einem EU-Staatsangehörigen der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleihe, vorenthalten werde, was der Fall wäre, wenn er gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, um seinem Familienangehörigen ohne Unionsbürgerschaft, dem das Aufenthaltsrecht verweigert worden sei, zu folgen.
Das Obergericht hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Gründe:
Es ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, Anträge auf Familienzusammenführung abzulehnen, wenn zuvor nicht geprüft worden ist, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger zum Verlassen des Gebiets der Union zwingen könnte, wenn dem Familienangehörigen kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wird. Dieses Abhängigkeitsverhältnis besteht nicht allein deshalb, weil der Unionsbürger und sein drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt und in dem die Ehe geschlossen wurde, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind.
Ist im Übrigen der Unionsbürger minderjährig (wie die Tochter von QP), muss die Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen Elternteil dieses Kindes ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, auf die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf das Wohl des Kindes gestützt werden. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis wird - wenn dieser Elternteil dauerhaft mit dem anderen Elternteil, der Unionsbürger ist, zusammenlebt - widerlegbar vermutet. Wenn nämlich der minderjährige Unionsbürger mit beiden Elternteilen dauerhaft zusammenlebt und sie sich daher tagtäglich das Sorgerecht für dieses Kind teilen sowie dessen rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge wahrnehmen, kann dieses Abhängigkeitsverhältnis vermutet werden, und zwar unabhängig davon, dass der andere Elternteil als Staatsangehöriger des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet diese Familie ansässig ist, über ein unbedingtes Recht verfügt, im Gebiet dieses Mitgliedstaats zu verbleiben. Gleichwohl können die Mitgliedstaaten selbst in diesem Fall dem drittstaatsangehörigen Elternteil unter bestimmten Voraussetzungen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Gründen verweigern, die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit zusammenhängen.
Ein Abhängigkeitsverhältnis, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (wie damals im Fall von XU), ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, besteht, wenn aus der Verbindung zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Kind mit Unionsbürgerschaft hervorgegangen ist, das nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (wie der Halbbruder von XU) und gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn das drittstaatsangehörige minderjährige Kind seinerseits gezwungen wäre, das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen. Denn der drittstaatsangehörige Elternteil, der mit dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind zusammenlebt, könnte gezwungen sein, es zu begleiten, was auch sein minderjähriges Kind mit Unionsbürgerschaft zwingen könnte, dieses Gebiet zu verlassen.
- Aufsatz: Menne - Wer hilft mir im internationalen Familienrecht? (Teil 2) (FamRB 2022, 37)
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