23.11.2022

Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gem. § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO Wohnsitz im Vereinigten Königreich oder in der Schweiz

In einer höheren Instanz ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist.

BGH v. 27.9.2022 - VI ZR 68/21
Der Sachverhalt:
Der Kläger, der jedenfalls bis Ende des Jahres 2020 im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland lebte, nimmt die Beklagten auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Zeitungsartikels in Anspruch. Das LG wies die Klage ab. Das OLG wies die Berufung des Klägers gem. § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurück. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers.

Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde haben die Beklagten vor dem Hintergrund, dass das Vereinigte Königreich seit dem 1.1. nicht mehr als Mitglied der EU zu behandeln ist, die Anordnung einer Prozesskostensicherheit gem. § 110 Abs. 1 ZPO für die Kosten aller Instanzen beantragt. Der Kläger rügt den Antrag als verspätet. Er macht darüber hinaus geltend, gem. § 110 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung befreit zu sein, da er seinen Wohnsitz zum 1.1.2021 in die Schweiz verlegt habe.

Der Antrag der Beklagten auf Anordnung einer durch den Kläger zu erbringenden Prozesskostensicherheit hatte vor dem BGH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit ist verspätet (§ 565 Satz 1, § 532 Satz 2 ZPO).

Die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten gehört zu den die Zulässigkeit der Klage betreffenden verzichtbaren Rügen, die grundsätzlich vor der ersten Verhandlung zur Hauptsache, und zwar für alle Rechtszüge, erhoben werden muss. Gem. § 111 ZPO kann der Beklagte allerdings auch dann wegen der Prozesskosten Sicherheit verlangen, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung erst im Laufe des Rechtsstreits eintreten und nicht ein zur Deckung ausreichender Teil des erhobenen Anspruchs unbestritten ist. Da über die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nur einmal und nicht in jeder Instanz erneut entschieden werden soll, ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung in einer höheren Instanz nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

Der Umstand, auf den die Beklagten ihr Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit stützen, trat bereits in der Berufungsinstanz ein. Die Übergangszeit nach Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der EU (Austrittsabkommen), während derer das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der EU gem. § 1 BrexitÜG noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist am 31.12.2020 abgelaufen. Das Berufungsverfahren ist aber erst mit Erlass des Beschlusses des OLG vom 3.2.2021 abgeschlossen worden. Bis zum Erlass dieses Beschlusses eingehende Schriftsätze hätte das OLG zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung sowie der Bestimmung in § 111 ZPO berücksichtigen müssen. Dem steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt des Ablaufs der Übergangszeit keine den Beklagten gesetzte Frist lief und im Berufungsverfahren nicht mündlich verhandelt worden ist. Maßgeblich ist allein, dass der behauptete Zulässigkeitsmangel bereits in der Berufungsinstanz bestand.

Abgesehen davon liegen die Voraussetzungen des § 110 ZPO für die Anordnung einer Prozesskostensicherheit nicht vor; dies gilt unabhängig von der Frage, ob der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Vereinigten Königreich oder, wie von ihm geltend gemacht, mittlerweile in der Schweiz hat. Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Vereinigten Königreich, sind die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO zwar erfüllt. Denn das Vereinigte Königreich ist am 31.1.2020 aus der EU ausgetreten; die Übergangszeit nach Art. 126 des Austrittsabkommens, innerhalb derer das Vereinigte Königreich nach § 1 BrexitÜG noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist abgelaufen. Der Kläger ist in diesem Fall aber gem. § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO i.V.m. Art. 9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13.12.1955, das für das Vereinigte Königreich 1969 in Kraft getreten ist, von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit.

Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz, gilt im Ergebnis nichts Anderes. Dann sind zwar die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO ebenfalls erfüllt, da es sich bei der Schweiz weder um einen Mitgliedstaat der EU noch um einen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum handelt. Der Kläger ist in diesem Fall aber gem. § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit. Die Entscheidung über die Erstattung der Prozesskosten der Beklagten würde, wie in dieser Bestimmung vorausgesetzt, auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags - des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30.10.2007 - in der Schweiz vollstreckt. Dieses Übereinkommen sichert auch die Wirkungserstreckung von Kostentiteln; gem. Artikel 32 LugÜ II ist unter "Entscheidung" i.S.d. Übereinkommens, die nach dessen Art. 38 ff. zu vollstrecken ist, auch der Kostenfestsetzungsbeschluss eines Gerichtsbediensteten zu verstehen.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 110 Prozesskostensicherheit
Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022

Auch nachzulesen im Aktionsmodul Zivilrecht:
Sie können Tage nicht länger machen, aber effizienter. 6 Module vereint mit führenden Kommentaren, Handbüchern und Zeitschriften für die zivilrechtliche Praxis. Neu: Online-Unterhaltsrechner. Jetzt zahlreiche, bewährte Formulare mit LAWLIFT bearbeiten! Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO. 4 Wochen gratis nutzen!
BGH online
Zurück