Befristetes Einreiseverbot für Zielland für Feststellung außergewöhnlicher Umstände von Bedeutung
BGH v. 15.10.2024 - X ZR 79/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger begehrt die Rückerstattung der Vergütung für eine Flugreise. Der Kläger buchte bei der Beklagten im August 2019 für sich und seine Ehefrau eine Flugreise nach Kanada, die vom 21.7.-2.8.2020 stattfinden und insgesamt 6.368 € kosten sollte. Der Kläger zahlte den vollen Reisepreis an die Beklagte.
Am 17.3.2020 gab das Auswärtige Amt wegen der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus eine zunächst bis 30.4.2020 befristete weltweite Reisewarnung aus. Am 18.3.2020 ordneten die kanadischen Behörden eine Schließung der Landesgrenze für alle Reisenden an, mit Ausnahme kanadischer und US-amerikanischer Staatsangehöriger. Mit E-Mail vom 19.3.2020 erklärte der Kläger, er wolle die Reise stornieren, insbesondere wegen der Grenzschließungen in Deutschland, Europa und Kanada sowie wegen des voraussichtlichen Andauerns der Virusausbreitung. Am 1.7.2020 sagte die Beklagte die Reise aufgrund der Covid-19-Pandemie und der weltweiten Reisewarnung ab. Dem wiederholten Begehren des Klägers auf Rückerstattung des geleisteten Reisepreises kam sie in der Folgezeit nicht nach.
Der Kläger reichte daraufhin eine Klage auf Rückzahlung des Reisepreises i.H.v. 6.368 € ein. Vor deren Zustellung zahlte die Beklagte 5.730 € an den Kläger. Dieser nahm die Klage in entsprechender Höhe zurück.
LG und OLG gaben der Klage statt und verurteilten die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 638 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Die Revision der Beklagten hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Beklagte hat gem. § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger durch die E-Mail vom 19.3.2020 nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam vom Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Die Beklagte kann dem dadurch begründeten Anspruch auf Rückzahlung des noch nicht erstatteten Teils des Reisepreises keinen Anspruch auf Entschädigung aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB entgegenhalten.
Das OLG hat zu Recht entschieden, dass ein solcher Entschädigungsanspruch im Streitfall gem. § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB ausgeschlossen ist, weil bereits im Zeitpunkt des Rücktritts zu besorgen war, dass die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort wegen der Covid-19-Pandemie und der auf ihr beruhenden Maßnahmen zumindest erheblich beeinträchtigt sein würde. Zu Recht hat das OLG angenommen, dass die Covid-19-Pandemie im vorgesehenen Reisezeitraum (Juli/August 2020) einen unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand i.S.v. § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB darstellte. Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat es entschieden, dass im Zeitpunkt des Rücktritts eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestanden hat, dass die Durchführung der Reise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt sein würde.
Zu Recht hat das OLG dem im Zeitpunkt des Rücktritts geltenden Einreiseverbot erhebliche Bedeutung beigemessen. Schon aus Rechtsgründen war eine Beförderung des Klägers und seiner Ehefrau an den Bestimmungsort ausgeschlossen, wenn die am 18.3.2020 ergangene Anordnung der kanadischen Behörden auch noch während des vorgesehenen Reisezeitraums fortgegolten hätte. Die tatrichterliche Würdigung des OLG, dass hierfür im Zeitpunkt des Rücktritts eine erhebliche Wahrscheinlichkeit bestand, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Insbesondere steht dieser Würdigung nicht entgegen, dass die Maßnahme bis 30.6.2020 befristet war. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist die Indizwirkung einer befristeten Reisewarnung als eher gering zu bewerten, wenn nicht absehbar ist, ob die Warnung verlängert wird, und zwischen dem Fristende und dem vorgesehenen Beginn der Reise noch geraume Zeit verbleibt. Endet die Frist jedoch nur wenige Tage vor dem geplanten Reisebeginn, ist es dem Reisenden nicht ohne weiteres zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten. Diese Grundsätze gelten auch und erst recht für ein behördliches Einreiseverbot.
Hier lag zwischen dem Ende der Befristung des Einreiseverbots und dem geplanten Reisebeginn zwar ein Zeitraum von drei Wochen. Angesichts der Länge der angeordneten Befristung und des Umstands, dass die weitere Entwicklung im Frühjahr 2020 nicht vorherzusehen war, ist es jedoch nicht zu beanstanden, dass das OLG die mit einem weiteren Zuwarten verbundene Belastung für den Reisenden als schwerwiegend angesehen hat.
Schließlich hat das OLG zu Recht angenommen, dass ein Ausschluss des Entschädigungsanspruchs nach § 651h Abs. 3 BGB auch dann in Betracht kommt, wenn der Reisende bereits mehrere Monate vor Reisebeginn vom Vertrag zurücktritt. In Teilen der Rechtsprechung der Instanzgerichte und der Literatur wird vertreten, dem Reisenden sei es zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten, bevor er den Rücktritt von der Pauschalreise erkläre. Nach einer anderen Ansicht ist es dem Reisenden nicht zuzumuten, weitere Entwicklungen abzuwarten; der Rücktritt sei vielmehr jederzeit zulässig. Der Zeitpunkt des Rücktritts sei lediglich für die Prognoseentscheidung bedeutsam. Diese sei bei größerem zeitlichem Abstand zwischen Rücktrittserklärung und Reisebeginn schwieriger, was sich infolge der Darlegungs- und Beweislast im Rahmen des § 651h Abs. 3 BGB zu Lasten des den Rücktritt erklärenden Reisenden auswirken könne. Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend. Für den Ausschluss der Entschädigungspflicht kommt es alleine darauf an, ob die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB nach der zum Zeitpunkt des Rücktritts zu treffenden Prognoseentscheidung vorliegen. Ist dies der Fall, ist der Reisende nicht gehalten, die weitere Entwicklung vor Reisebeginn abzuwarten.
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Der Kläger begehrt die Rückerstattung der Vergütung für eine Flugreise. Der Kläger buchte bei der Beklagten im August 2019 für sich und seine Ehefrau eine Flugreise nach Kanada, die vom 21.7.-2.8.2020 stattfinden und insgesamt 6.368 € kosten sollte. Der Kläger zahlte den vollen Reisepreis an die Beklagte.
Am 17.3.2020 gab das Auswärtige Amt wegen der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus eine zunächst bis 30.4.2020 befristete weltweite Reisewarnung aus. Am 18.3.2020 ordneten die kanadischen Behörden eine Schließung der Landesgrenze für alle Reisenden an, mit Ausnahme kanadischer und US-amerikanischer Staatsangehöriger. Mit E-Mail vom 19.3.2020 erklärte der Kläger, er wolle die Reise stornieren, insbesondere wegen der Grenzschließungen in Deutschland, Europa und Kanada sowie wegen des voraussichtlichen Andauerns der Virusausbreitung. Am 1.7.2020 sagte die Beklagte die Reise aufgrund der Covid-19-Pandemie und der weltweiten Reisewarnung ab. Dem wiederholten Begehren des Klägers auf Rückerstattung des geleisteten Reisepreises kam sie in der Folgezeit nicht nach.
Der Kläger reichte daraufhin eine Klage auf Rückzahlung des Reisepreises i.H.v. 6.368 € ein. Vor deren Zustellung zahlte die Beklagte 5.730 € an den Kläger. Dieser nahm die Klage in entsprechender Höhe zurück.
LG und OLG gaben der Klage statt und verurteilten die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 638 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Die Revision der Beklagten hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
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Die Beklagte hat gem. § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger durch die E-Mail vom 19.3.2020 nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam vom Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Die Beklagte kann dem dadurch begründeten Anspruch auf Rückzahlung des noch nicht erstatteten Teils des Reisepreises keinen Anspruch auf Entschädigung aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB entgegenhalten.
Das OLG hat zu Recht entschieden, dass ein solcher Entschädigungsanspruch im Streitfall gem. § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB ausgeschlossen ist, weil bereits im Zeitpunkt des Rücktritts zu besorgen war, dass die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort wegen der Covid-19-Pandemie und der auf ihr beruhenden Maßnahmen zumindest erheblich beeinträchtigt sein würde. Zu Recht hat das OLG angenommen, dass die Covid-19-Pandemie im vorgesehenen Reisezeitraum (Juli/August 2020) einen unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand i.S.v. § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB darstellte. Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat es entschieden, dass im Zeitpunkt des Rücktritts eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestanden hat, dass die Durchführung der Reise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt sein würde.
Zu Recht hat das OLG dem im Zeitpunkt des Rücktritts geltenden Einreiseverbot erhebliche Bedeutung beigemessen. Schon aus Rechtsgründen war eine Beförderung des Klägers und seiner Ehefrau an den Bestimmungsort ausgeschlossen, wenn die am 18.3.2020 ergangene Anordnung der kanadischen Behörden auch noch während des vorgesehenen Reisezeitraums fortgegolten hätte. Die tatrichterliche Würdigung des OLG, dass hierfür im Zeitpunkt des Rücktritts eine erhebliche Wahrscheinlichkeit bestand, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Insbesondere steht dieser Würdigung nicht entgegen, dass die Maßnahme bis 30.6.2020 befristet war. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist die Indizwirkung einer befristeten Reisewarnung als eher gering zu bewerten, wenn nicht absehbar ist, ob die Warnung verlängert wird, und zwischen dem Fristende und dem vorgesehenen Beginn der Reise noch geraume Zeit verbleibt. Endet die Frist jedoch nur wenige Tage vor dem geplanten Reisebeginn, ist es dem Reisenden nicht ohne weiteres zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten. Diese Grundsätze gelten auch und erst recht für ein behördliches Einreiseverbot.
Hier lag zwischen dem Ende der Befristung des Einreiseverbots und dem geplanten Reisebeginn zwar ein Zeitraum von drei Wochen. Angesichts der Länge der angeordneten Befristung und des Umstands, dass die weitere Entwicklung im Frühjahr 2020 nicht vorherzusehen war, ist es jedoch nicht zu beanstanden, dass das OLG die mit einem weiteren Zuwarten verbundene Belastung für den Reisenden als schwerwiegend angesehen hat.
Schließlich hat das OLG zu Recht angenommen, dass ein Ausschluss des Entschädigungsanspruchs nach § 651h Abs. 3 BGB auch dann in Betracht kommt, wenn der Reisende bereits mehrere Monate vor Reisebeginn vom Vertrag zurücktritt. In Teilen der Rechtsprechung der Instanzgerichte und der Literatur wird vertreten, dem Reisenden sei es zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten, bevor er den Rücktritt von der Pauschalreise erkläre. Nach einer anderen Ansicht ist es dem Reisenden nicht zuzumuten, weitere Entwicklungen abzuwarten; der Rücktritt sei vielmehr jederzeit zulässig. Der Zeitpunkt des Rücktritts sei lediglich für die Prognoseentscheidung bedeutsam. Diese sei bei größerem zeitlichem Abstand zwischen Rücktrittserklärung und Reisebeginn schwieriger, was sich infolge der Darlegungs- und Beweislast im Rahmen des § 651h Abs. 3 BGB zu Lasten des den Rücktritt erklärenden Reisenden auswirken könne. Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend. Für den Ausschluss der Entschädigungspflicht kommt es alleine darauf an, ob die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB nach der zum Zeitpunkt des Rücktritts zu treffenden Prognoseentscheidung vorliegen. Ist dies der Fall, ist der Reisende nicht gehalten, die weitere Entwicklung vor Reisebeginn abzuwarten.
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