07.03.2022

Corona-Pandemie und Reiserecht - Wann ist eine Tatsache gerichtsbekannt?

Eine Tatsache ist gerichtsbekannt, wenn sie das erkennende Gericht in amtlicher Eigenschaft selbst wahrgenommen hat und die Tatsache nunmehr noch bekannt ist. Da der Gegenbeweis möglich sein muss, muss den Parteien eine entsprechende Kenntnis des Gerichts offenbart werden.

LG Frankfurt a.M. v. 24.2.2022, 2-24 S 176/21
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist über 60 Jahre alt, seine Ehefrau leidet seit 40 Jahren unter Diabetes und Asthma. Er hatte bei der Beklagten für sich und seine Frau am 25.11.2019 eine Flugreise nach Italien samt Aufenthalt in einem 4-Sterne-Hotel vom 3.10. bis 10.10.2020 zum Gesamtpreis von 1.476 € gebucht. Die Reisebedingungen der Beklagten (Stand 18.11.2019) sahen in Ziffer 9.3. vor, dass bei einem Rücktritt bis 31 Tage vor Reisebeginn der Reiseveranstalter eine Entschädigungspauschale/Stornogebühr i.H.v. 25% verlangen kann. Der Kläger zahlte vereinbarungsgemäß 295,20 € an. Am 16.6.2020 richtete der Kläger ein Schreiben mit (auszugsweise) folgendem Inhalt an die Beklagte:

"Hiermit treten wir wegen höherer Gewalt (unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände) gem. § 651h Absatz3 BGB von der o.a. Reise zurück. Meine Ehefrau gehört wegen ihrer Vorerkrankung, seit 40 Jahren insulinpflichtige Diabetes und Asthma, zu dem besonders gefährdeten Personenkreis. Bei mir ist es das Alter."

Mitte Juni 2020 gab es keine amtliche Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Italien oder Kalabrien. Zu diesem Zeitpunkt war die Reise von der Beklagten weder abgesagt, noch war absehbar, ob die Reise abgesagt werden muss. Am 14.8.2020 rechnete die Beklagte gegenüber dem Kläger einen Betrag i.H.v. 369 € ab. Unter Berücksichtigung der geleisteten Anzahlung verlangte sie vom Kläger weitere 73,80 €. Der Kläger verlangte von der Beklagten seinerseits, erfolglos, die Rückerstattung seiner Anzahlung mit Schreiben vom 24.8.2020 und setzte der Beklagten hierfür eine Frist bis zum 7.9.2020. Die von der Beklagten veranstaltete Reise fand im geplanten Zeitraum statt.

Der Kläger hat behauptete, für ihn und seine Ehefrau wäre eine Reise nach Italien angesichts der als gerichtsbekannt vorausgesetzten Höhe der dortigen Infektionszahlen mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko verbunden gewesen. Der Kläger war der Ansicht, berechtigt gewesen zu sein, vor Reisebeginn vom Reisevertrag zurückzutreten, da jedenfalls eine gewisse, sogar große Wahrscheinlichkeit bestanden habe, dass eine Gesundheitsgefährdung gegeben sei.

Das AG hat der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 295,20 € zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG das Urteil abgeändert, die Klage abgewiesen und den Kläger verurteilt, an die Beklagte 73,80 € zu zahlen.

Die Gründe:
Der Kläger kann entgegen der Entscheidung des AG den von ihm angezahlten Reisepreis i.H.v. 295,20 € nicht zurückverlangen, weil der Entschädigungsanspruch der Beklagten, dessen Höhe sich aus den AGB der Beklagten ergibt, i.H.v. 369 € nicht gem. § 651 h Abs. 3 S. 1 BGB ausgeschlossen ist. Die Widerklage ist hingegen begründet.

Das AG hat zu Unrecht sein Urteil mit gerichtsbekannten Umständen dahingehend begründet, dass Italien und Kalabrien von der Pandemie heimgesucht worden sei und heimgesucht werde, ohne ausreichende Prognosegrundlagen festzustellen. Gerichtskundige Tatsachen i.S.d. § 291 ZPO bedürfen keines Beweises. Eine Tatsache ist gerichtsbekannt, wenn sie das erkennende Gericht in amtlicher Eigenschaft selbst wahrgenommen hat und die Tatsache nunmehr noch bekannt ist. Da der Gegenbeweis möglich sein muss, muss den Parteien eine entsprechende Kenntnis des Gerichts offenbart werden.

Im vorliegenden Fall hatte das AG bereits letzteres nicht getan. Zudem waren die Umstände, die das AG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hatte, so allgemein, dass daraus keinerlei Rechtsfolge zugunsten der Kläger abgeleitet werden konnte. Die Tatsache, dass Italien und Kalabrien von dem Virus heimgesucht worden waren, ließ sich beinahe auf jedes Land der Welt zu gewissen Zeiten übertragen. Zu Unrecht war das AG unter Berücksichtigung der möglichen tatsächlichen Prognosegrundlagen von einer ausreichenden Prognosegrundlage ausgegangen.

Der Kläger hatte ungeachtet dessen ebenfalls keinerlei objektive Umstände oder Indizien dargetan, die für eine erhebliche Beeinträchtigung der reisevertraglichen Pflichten der Beklagten im vereinbarten Reisezeitraum sprechen konnten. Der Kläger hatte sich darauf beschränkt, Umstände als gerichtsbekannt zu beschreiben. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass es zum Zeitpunkt des Rücktritts gerade in Kalabrien, dem Bestimmungsort im Sinne des § 651 h Abs. 3 S. 1 BGB, erhebliche Infektionszahlen gegeben habe oder bis zum Zeitraum bis zur Reise eine solche "Infektionswelle" entstehen würde. Er hatte nichts zu Einschränkungen der Reiseleistungen ausgeführt.

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